Frühstücksgeschichten aus Birk. Группа авторов
genug, in einem fremden Land einen Neuanfang zu wagen. Sie ließen sich auch nicht durch die widrigen Umstände von den Freuden des Lebens abhalten. Als der Zug in die Nacht hinein fuhr, waren schon kurz nach Einbruch der Dunkelheit mühsam unterdrückte Lustschreie zu hören.
Im Laufe des folgenden Tages überquerte der Zug bei Furth im Walde die Grenze nach Bayern. In diesem Ort wurden wir „entlaust“. Männer und Frauen bewegten sich getrennt im Gänsemarsch auf zwei Baracken zu, wo sie wie an einem Fließband drei Stationen zu durchlaufen hatten. Jede der Stationen war mit einem Mann/Frau mit einer großen, DDT-gefüllten Spritze besetzt. An der ersten Station hieß es: „Mütze ab“. Dann war der Kopf weiß wie Schnee von dem Pulver. An der zweiten Station hieß es: „Hemd auf!“ und schon war der Oberkörper wie in Mehl gehüllt. An der dritten Station kam der Ruf: „Hose auf!“ und schon war der Rest des Körpers „eingemehlt“. Ohne dass ein Wort zur Gesundheitsschädlichkeit des DDT-Pulvers gesagt wurde, ging es in die Registrierstelle. Nach der Aufnahme der Personalien wurden den Familien die neuen Aufenthaltsorte zugewiesen.
Bei meinem Namen kam Hektik auf. Ich war nicht nur ein „Einzelreisender“ und mit 14 Jahren minderjährig, sondern wollte aus der amerikanischen durch die französische in die britische Besatzungszone zu meinen Eltern reisen. Mit einem Schlage lernte ich die Aufteilung Deutschlands in Interessengebiete und deren unterschiedliche Behandlung kennen. Der für mich zuständige Registrator meinte, man könne nur über einen Aufenthalt in der amerikanischen Zone entscheiden. Sein Vorgesetzter vertrat die Auffassung, mit den Briten käme man wohl noch zurecht, aber mit den Franzosen sei wohl keine Einigung zu erreichen. Der eingeschaltete Leiter der Aufnahmestelle erkannte den Problemfall eines Minderjährigen im Niemandsland. Er wollte sich die Arbeit vom Halse schaffen und entschied, dass ich ein vorläufiges Ausweispapier mit „Marschbefehl“ und Fahrkarte nach Siegburg erhalten sollte. Im Übrigen wünschte er mir viel Glück für die Weiterreise. Ich wurde also mit meinem Gepäck nach Cham zum Bahnhof gebracht. Dort wurde meine Kiste mit den nötigen Adressen versehen und in die Obhut der Reichsbahn gegeben. Ich selbst wurde in den Zug in Richtung Westen gesetzt. Mein Betreuer sagte mir noch, ich müsse in Regensburg in Richtung Frankfurt/Main umsteigen. Dort solle ich mich an die Bahnhofsmission wenden, die eventuell wisse, ob überhaupt und wann ein Zug aus der amerikanischen durch die französische in die britische Zone führe. Mangels irgendwelcher Fahrpläne habe man insoweit in Bayern nicht die geringste Ahnung.
Nach einem kurzen Aufenthalt konnte ich in Regensburg in den Zug nach Frankfurt/Main einsteigen, der randvoll mit Schwarzhändlern und „Hamsterern“ besetzt war. Jeder beobachtete sein Gepäck in der Angst, es könnte gestohlen werden. Auch dieser Zug fuhr wieder in die Nacht hinein, aber aus Furcht, er könnte beraubt werden, wagte keiner zu schlafen. Einer der Reisenden hatte Pech. Sein Rucksack, in dem er Raps transportierte, war entweder aufgegangen oder aufgeschnitten worden: Jedenfalls rollten die Rapskörner in dem ganzen Wagen umher und verwandelten – zertreten – den Fußboden in eine ölige Rutschbahn, die von den Mitreisenden zwar verflucht aber nicht ohne Schadenfreude gesehen wurde. Gegen Mitternacht erreichte der Zug Frankfurt/Main. Natürlich steuerte ich sofort die Bahnhofsmission an und traf dort auf eine Frau mittleren Alters, die bei meinem Anblick zu schimpfen anfing. Es sei unverantwortlich, in dieser Zeit Kinder allein um Mitternacht auf Bahnhöfe zu lassen. Als ich erklärte, dass ich schon eine längere Zugfahrt hinter mir hätte und jetzt eine Verkehrsverbindung durch die französische in die britische Zone nach Siegburg suchte, fiel sie fast in Ohnmacht. Sie fing an, mir lang und breit alle Schwierigkeiten eines solchen Transports aufzuzählen. Während ihres Redeschwalls stieg mir die ganze Zeit der Geruch einer warmen Suppe in die Nase, die in einer Ecke auf einem Ofen vor sich hin kochte. Auf meine Frage nach etwas Essbaren entschuldigte sie sich, dass sie selbst nicht schon früher daran gedacht hatte, und gab mir eine große Schüssel Erbsensuppe zu essen. Während meiner Mahlzeit beobachtete ich sie aus dem Augenwinkel und konnte fühlen, wie sie sich intensiv mit der Frage beschäftigte, was sie mit diesem minderjährigen Einzelreisenden im Niemandsland anfangen sollte. Als ich sah, wie sich ihr Gesicht aufhellte, ahnte ich, dass sie beschlossen hatte, sich selbst keine Schwierigkeiten zu machen und mich weiterreisen zulassen. Ganz im Gegensatz zu ihrem anfänglichen Lamento ging sie katzenfreundlich mit mir vor die Tür, zeigte auf einen in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennbaren Zug und meinte, dass dieser in die britische Zone fahren würde. Er hätte zwar schon vor zwei Tagen abfahren sollen, könnte aber jetzt wohl als einer der Nächsten den Bahnhof verlassen.
Also stapfte ich über die Gleise zu dem Zug, öffnete eines der Abteile und wollte mich in der Dunkelheit mit Schwung auf einen Sitz setzen, als mich jemand auffing und mir klarmachte, dass schon alle Plätze besetzt seien. Schließlich wartete man schon mehrere Tage auf die Abfahrt des Zuges. Nach einigem Hin und Her rückte man aber doch zusammen und überließ mir ein schmales Stück Bank. Der Zug rührte sich aber nicht vom Fleck. War die Unterhaltung der Mitreisenden seit meinem Zugang zunächst verstummt, so wurden die Gespräche mit der Länge der Wartezeit wieder aufgenommen. Als es morgens immer heller wurde, konnte ich auch meine Abteilgenossen erkennen. Es waren alles Männer im Alter von etwa 50 Jahren. Alle waren Schwarzhändler oder „Hamsterer“, die aus den Unterschieden der Besatzungszonen ihren Profit zogen. Die meisten kannten sich – aus welchen Gründen auch immer – schon länger. Beruhigend für mich war, dass sie die Schwierigkeiten des Zonenwechsels genau kannten, sie in mir keinen Konkurrenten sahen und mir gegenüber sogar gewisse Betreuungsgefühle erkennen ließen. Die hygienischen Verhältnisse im Umfeld des jetzt schon drei Tage auf die Abfahrt wartenden Zuges waren verheerend. Da sich niemand aus Angst vor einer plötzlichen Abfahrt von dem Zug zu entfernen wagte, wurde die Notdurft zwischen den Waggons auf den Gleisen verrichtet. Es stank fürchterlich. Plötzlich hieß es, der Zug fährt gleich los. Alle stürmten in die Abteile und brachen in Jubelgeschrei aus, als sich der Zug mit seiner altersschwachen Lokomotive langsam in Bewegung setzte.
Kurz nach Mitternacht nahm die Nervosität meiner Mitreisenden zu. Ich erfuhr, dass man sich in der französischen Zone einem Kontrollposten bei Betzdorf nähere und die Franzosen den Zug gründlich durchsuchen würden. Da die Franzosen selbst nicht viel zu Essen hätten, nähmen sie den Reisenden zum Beispiel sämtliche den Tagesbedarf überschreitenden Lebensmittel ab. Personen, die sich ihrer Ansicht nach nicht hinlänglich ausweisen könnten, würden mit ungewissem Schicksal festgenommen. Aus dieser Lage gäbe es nur einen Ausweg: Vor dem Kontrollposten läge eine Steigungsstrecke, die die altersschwache Lokomotive nur im Schritttempo nehmen könne. Hier müsse man aus dem Zug springen und, während der Zug an dem Kontrollpunkt hielt, durch einen Wald laufen, um dann, wenn der Zug nach der Kontrolle und der Fahrt über die Zonengrenze auf der britischen Seite bei dem Ort Au für die Kontrolle durch die Engländer erneut hielt, wieder in den Zug einzusteigen. Angesichts meines nur vorläufigen Ausweispapiers konnte ich die Frage, ob ich mitmache, nur mit einem lauten Ja beantworten. Da mir die Mitreisenden erzählten, dass es nur noch wenige Kilometer bis Siegburg seien, hatte ich nicht die geringste Lust, so nahe vor dem Ziel in einem französischen Auffanglager zu landen. Also sprangen wir an der Steigungsstrecke aus dem Zug, liefen durch den Wald, sahen die Eisenbahngleise wieder und auch den Zug, der sich dem britischen Kontrollposten bei Au an der Sieg näherte und dort anhielt. Völlig außer Atem stiegen wir wieder in den Zug ein, wurden nur oberflächlich von den Engländern kontrolliert, die auch an meinem vorläufigen Ausweis nichts auszusetzen hatten.
Es dämmerte schon, als der Zug endlich in Richtung Siegburg weiterfuhr. Gegen 7 Uhr morgens erreichten wir die Stadt. Meine Abteilgenossen wünschten mir viel Glück und ich erkundigte mich als Erstes bei dem einzigen Bahnhofsbediensteten nach meiner Kiste, von der es aber keine Spur gab. Auf meine Frage nach dem Weg nach Braschoß zeigte er mir die Richtung mit der Bemerkung, das einzige und verlässlichste Verkehrsmittel dahin seien die eigenen Füße. Laufgeübt setzte ich mich in Marsch und erreichte Braschoß und die Familie, als sie zum Frühstück zusammensaß.
Etwa eine Woche später teilte mir die Reichsbahn mit, dass meine Kiste in Siegburg angekommen, aber aufgebrochen sei. Wir holten sie mit den schlimmsten Befürchtungen ab, stellten jedoch zu unserer Überraschung fest, dass fast nichts fehlte.
Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass mein Onkel die Verhältnisse in der Bonner Umgebung realistisch geschildert hatte. Die Häuser waren tatsächlich so klein, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Wohnraum