Der Hund der Baskervilles. Sir Arthur Conan Doyle

Der Hund der Baskervilles - Sir Arthur Conan Doyle


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ein Schaufenster, woraufhin Holmes das Gleiche tat. Einen Augenblick später ließ er einen leisen, zufriedenen Ausruf hören. Ich folgte seinem scharfen Blick und sah, wie eine Droschke mit einem Fahrgast, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehalten hatte, sich langsam in Bewegung setzte.

      »Das ist unser Mann, Watson! Vorwärts! Nehmen wir ihn genauer in Augenschein, wenn wir jetzt schon nicht mehr tun können.«

      In diesem Moment tauchte im Seitenfenster der Droschke ein buschiger schwarzer Bart auf und ein Paar stechende Augen, die uns fixierten. Unmittelbar darauf fuhr die Klappe im Wagendach hoch, dem Kutscher wurde etwas zugerufen, und schon ratterte das Gefährt in wilder Fahrt die Regent Street hinunter. Holmes sah sich hektisch nach einer freien Droschke um, aber keine war in Sicht. Dann stürzte er in wilder Verfolgungsjagd dem Wagen hinterher, mitten durch den Straßenverkehr, aber der Vorsprung war zu groß, und die Droschke war schon außer Sichtweite.

      »Da haben wir’s!« sagte Holmes bitter, als er keuchend und blass vor Ingrimm aus dem Strom der Fahrzeuge wieder auftauchte. »Hat es jemals so ein Pech gegeben, und noch dazu eine so miserable Taktik? Watson, Watson, wenn Sie ein ehrlicher Mann sind, berichten Sie der Nachwelt von dieser Dummheit, die meine Erfolge aufwiegt.«

      »Wer war der Mann?«

      »Ich habe keine Ahnung.«

      »Ein Spitzel?«

      »Nach allem, was wir gehört haben, ist es offensichtlich, dass Baskerville seit seiner Ankunft in London auf Schritt und Tritt beobachtet worden ist. Wie sonst hätte der Betreffende so schnell erfahren können, dass Sir Henry im Northumberland Hotel abgestiegen ist? Wenn man ihn am ersten Tag seines Aufenthalts beschattet hat, dann würde man es am zweiten auch tun, folgerte ich. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich, während Dr Mortimer die Sage vom Hund der Baskervilles vorlas, zweimal ans Fenster getreten bin?«

      »Ja, das fiel mir auf.«

      »Ich wollte sehen, ob jemand auf der Straße herumlungert, aber ich konnte niemanden entdecken. Wir haben es mit einem gerissenen Kerl zu tun, Watson. Diese Geschichte ist abgründig, und obwohl ich mir noch nicht darüber im Klaren bin, ob es gute oder böse Mächte sind, mit denen wir zu tun haben, ist es offensichtlich, dass Energie und Planmäßigkeit dahinterstecken. Als unsere Besucher fortgingen, bin ich ihnen sofort gefolgt in der Hoffnung, ihren unsichtbaren Schatten zu entdecken. Aber der Mann war schlau genug, sich nicht auf seine Beine zu verlassen, sondern eine Droschke zu nehmen, so dass er langsam hinter ihnen herfahren oder sie überholen konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Diese Methode hatte noch dazu den Vorteil, dass er bereits eine Droschke zur Hand hatte, falls sie selbst einen Wagen nehmen würden. Sie hat allerdings auch einen Nachteil.«

      »Sie liefert ihn dem Kutscher aus.«

      »Richtig.«

      »Wie schade, dass wir uns nicht die Wagennummer gemerkt haben!«

      »Mein lieber Watson, so tölpelhaft ich mich auch benommen habe – Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte die Nummer übersehen? Sie lautet 2704. Aber das nützt uns im Augenblick wenig.«

      »Ich wüsste nicht, was Sie anderes hätten tun können.«

      »Ich hätte, als ich die Droschke bemerkte, augenblicklich umkehren und in der entgegengesetzten Richtung weitergehen sollen. Dann hätte ich in aller Ruhe eine Droschke nehmen und dem Mann in diskreter Entfernung folgen können – oder besser noch, ich hätte zum Northumberland Hotel fahren und dort auf ihn warten sollen. Unser Unbekannter wäre Baskerville dorthin gefolgt, und wir hätten Gelegenheit gehabt, den Spieß umzudrehen und ihn zu beobachten. Aber wir haben uns durch vorschnelles Handeln verraten, was unser Gegenspieler mit außerordentlicher Geistesgegenwart und Entschlossenheit ausgenutzt hat, und wir haben unseren Mann aus den Augen verloren.«

      Während dieses Gesprächs waren wir langsam die Regent Street hinuntergeschlendert. Dr Mortimer und sein Begleiter waren unseren Blicken längst entschwunden.

      »Es hat keinen Sinn, ihnen weiterhin zu folgen«, sagte Holmes. »Der Spürhund ist verschwunden und wird so schnell nicht wieder auftauchen. Wir müssen überlegen, welche Karten wir noch in der Hand haben, und sie entschlossen ausspielen. Könnten Sie den Mann in der Droschke beschreiben?«

      »Mit Bestimmtheit könnte ich nur den Bart bezeugen.«

      »Ich auch, woraus ich schließe, dass der Bart höchstwahrscheinlich falsch ist. Ein kluger Mann auf einer so heiklen Mission braucht keinen Bart, außer um seine Gesichtszüge zu verbergen. Kommen Sie mit hier herein, Watson.«

      Er betrat den Geschäftsraum eines Botendienstes, wo er vom Büroleiter erfreut und herzlich begrüßt wurde.

      »Ah, Wilson, ich sehe, Sie haben die kleine Angelegenheit nicht vergessen, in der ich damals Gelegenheit hatte, Ihnen behilflich zu sein.«

      »Nein, Sir, das werde ich nie vergessen. Sie haben meinen guten Namen gerettet, und vielleicht sogar mein Leben.«

      »Sie übertreiben, mein Lieber. Wenn ich mich richtig erinnere, Wilson, war unter Ihren Botenjungen ein junger Bursche namens Cartwright, der sich bei der Ermittlung recht geschickt angestellt hat.«

      »Ja, Sir, der ist noch bei uns.«

      »Würden Sie ihn bitte rufen? Danke. Und könnten Sie mir freundlicherweise diese Fünf-Pfund-Note in Münzen umwechseln?«

      Auf das Klingelzeichen des Büroleiters erschien ein vielleicht vierzehnjähriger Junge mit offenem, aufgewecktem Gesicht. Er stand jetzt vor uns und blickte ehrfürchtig zu dem berühmten Detektiv auf.

      »Würden Sie mir bitte das Hotelverzeichnis reichen?« fragte Holmes. »Danke sehr. Hier, Cartwright, sind die Namen von dreiundzwanzig Hotels, alle in unmittelbarer Nähe von Charing Cross. Siehst du?«

      »Jawohl, Sir.«

      »Du suchst sie alle auf, eins nach dem anderen.«

      »Jawohl, Sir.«

      »In jedem Hotel gibst du erst dem Türsteher einen Schilling. Hier sind dreiundzwanzig Schillinge.«

      »Ja, Sir.«

      »Du sagst ihm, dass du den Papierabfall von gestern sehen möchtest. Falls er fragt, sagst du, ein wichtiges Telegramm sei falsch ausgeliefert worden, und du sollst danach suchen. Verstanden?«

      »Jawohl, Sir.«

      »In Wirklichkeit suchst du nach dem Mittelblatt der Times von gestern, aus dem mit einer Schere Teile ausgeschnitten worden sind. Hier ist ein Exemplar dieser Ausgabe. Dies ist die Seite, auf die es ankommt. Du wirst sie doch wiedererkennen?«

      »Jawohl, Sir.«

      »Der Türsteher wird in jedem Fall erst den Hotelportier rufen. Dem gibst du auch einen Schilling. Hier sind noch einmal dreiundzwanzig Schillinge. In den allermeisten Hotels wirst du zu hören bekommen, der Inhalt der Papierkörbe sei bereits verbrannt oder sonstwie vernichtet. In den restlichen wird man dir einen Haufen Papier zeigen, und darin suchst du dieses Blatt der Times. Die Chance, dass du es findest, ist sehr gering. Hier sind noch einmal zehn Schillinge für unvorhergesehene Fälle. Gib mir bis heute Abend per Telegramm Bescheid in die Baker Street. Und nun, Watson, müssen wir nur noch telegraphisch die Identität des Kutschers von Droschke Nr. 2704 ermitteln, und dann wollen wir uns die Zeit bis zu unserer Verabredung im Northumberland Hotel in einer der Gemäldegalerien in der Bond Street vertreiben.«

      5. KAPITEL

      Drei gerissene Fäden

      Sherlock Holmes besaß in ungewöhnlichem Maß die Fähigkeit, seine Gedanken von momentanen Problemen ab- und auf andere Dinge hinzulenken. Während der nächsten zwei Stunden hatte er den geheimnisvollen Fall, in den wir verwickelt waren, scheinbar völlig vergessen. Er war in die Betrachtung von Gemälden der modernen belgischen Schule vertieft, und auch auf dem Weg von der Galerie zum Hotel sprach er ausschließlich über moderne Kunst, von der er die absurdesten Vorstellungen hatte.

      »Sir Henry Baskerville erwartet Sie oben«,


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