Menschliches, Allzumenschliches. Friedrich Wilhelm Nietzsche

Menschliches, Allzumenschliches - Friedrich Wilhelm Nietzsche


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      LUNATA

Menschliches, Allzumenschliches

      Menschliches, Allzumenschliches

      Erster Band

      © 1880 Friedrich Wilhelm Nietzsche

      Überarbeitete Neuauflage

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       An Stelle einer Vorrede

       Vorrede

       Erstes Hauptstück

       Zweites Hauptstück

       Drittes Hauptstück

       Viertes Hauptstück

       Fünftes Hauptstück

       Sechstes Hauptstück

       Siebentes Hauptstück

       Achtes Hauptstück

       Neuntes Hauptstück

       Unter Freunden

       Über den Autor

      Ein Buch für freie Geister

      An Stelle einer Vorrede

      – eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es tut nicht not, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Teil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urteile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr antun konnten.

      Aus dem Lateinischen des Cartesius

      Vorrede

       1

      Es ist mir oft genug und immer mit großem Befremden ausgedrückt worden, daß es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der »Geburt der Tragödie« an bis zum letzthin veröffentlichten »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«: sie enthielten allesamt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur – menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Mißtrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermutigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Mutes, ja der Verwegenheit. In der Tat, ich selbst glaube nicht, daß jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen errät, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Ängsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurteilt, wird auch verstehen, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte – in irgendeiner Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurechtfälschen, zurechtdichten mußte (– und was haben Dichter je anderes getan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nötigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, – ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, daß man mir in diesem Betrachte mancherlei »Kunst«, mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, daß ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauers blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen daß ich mich über Richard Wagners unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft – und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? – gesetzt aber, dies alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wißt ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wieviel List der Selbst-Erhaltung, wieviel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betrug enthalten ist, – und wieviel Falschheit mir noch nottut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und tue, was ich immer getan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller – und rede unmoralisch, außermoralisch, »jenseits von Gut und Böse«? –

       2

      – So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die »freien Geister« erfunden, denen dieses schwermütig-mutige Buch mit dem Titel »Menschliches, Allzumenschliches« gewidmet ist: dergleichen »freie Geister« gibt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, acedia, Untätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, – als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Daß es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, daß unser Europa unter seinen Söhnen von morgen und übermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht tue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehen, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? – –

       3

      Man darf vermuten, daß ein Geist, in dem der Typus »freier Geist« einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat, und daß er vorher


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