Wahre Geschichten eines Abends. Marina Linnik

Wahre Geschichten eines Abends - Marina Linnik


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>© Internationaler Schriftstellerverband, 2016

* * *

      Verschwundener Teller

      – Nein, nein, nein, – die Dame im Sessel schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. Und da tanzten die goldenen Locken, die ihr längliches Gesicht umrahmten, heftig auf ihren elfenbeinfarbigen Schultern.

      Natalja Andrejewna Orlowa-Denissowa war zwar ein wenig korpulent, aber hoch und besaß einwandfreie Statur. Trot dieses Nachteils galt sie immer noch als Moskaus Schönheitskönigin, und das blaue modisch geschnitene Ausgangskleid betonte aufs Schönste ihre Reize.

      – Nie werde ich an die honnêteté[1] des niederen Volkes glauben. Erinnern Sie sich, meine Herrschaften, was Monsieur Karamsin gesagt hat, als er über Russland und sein Volk gefragt wurde?

      Sie blickte auf die Gäste fraglich und seufzte ausdrücklich tief:

      – Das ist also der Ruhm! Solange der Mensch lebt, ist sein Name in aller Munde; sobald er stirbt, verlässt der Ruhm diese Welt mit ihm… Meine Herrschaften, wie könnte man die Worte vergessen, die das ganze Wesen des Volkes wiedergeben?… Nikolas, mein Freund, erinnerst du dich etwa daran?

      Nikolai Wassiljewitsch wendete seinen Blick von Spielkarten ab und schaute seine Ehegatin, die umgeben von vielen Gästen saß, ärgerlich an. Er mochte es nicht, vom Spiel durch dummes Geschwät abgelenkt zu werden. Aber als er auf die charmante Natalja Andrejewna blickte, auf deren rot gewordenen Wangen Grübchen schon zu sehen waren, konnte er sich ein Lächeln nicht verbeißen. «Die ist aber so süß!» – dachte Nikolai Wassiljewitsch, der trot des Alters in seine Frau wahnsinnig verliebt war. Seine Frau war aber wirklich mehr als schön. Ihr vergeistigtes Gesicht, von Intelligenz geprägter Blick ihrer lebhafter Augen, ihre Lebensfreude und innere Energie zogen die Menschen an. Ihr freundlicher und gutherziger Charakter, ihre außergewöhnliche Gastfreundschaft luden viele Gäste unter das Dach ihres kleinen, aber gemütlichen Hauses ein.

      – Nein, ma chérie[2]. Ehrlich gesagt habe ich davon vergessen. Du weißt doch, dass ich für den Sentimentalismus, für den Herr Karamsin und derartige so viel schwärmten, keine Sympathie hege.

      Natalja Andrejewna warf auf ihren Mann einen verächtlichen Blick und sette das unterbrochene Gespräch fort:

      – Lassen wir uns dem Grafen seine Besinnungslosigkeit verzeihen, – sagte sie mit einer um Entschuldigung bitenden Stimme. – Nous continuerons, mes amis[3]… Bei einem Gespräch mit dem Botschafter Frankreichs… des Namens kann ich mich jett nicht genau entsinnen… antwortete Monsieur Karamsin auf die Frage, was er von Russland hält: «Auch wenn Sie mich um Miternacht in einem fernen Winkel der Welt aufwachen und fragen, was man eben in Russland tut, kann ich ihnen mit Sicherheit antworten: Man klaut».

      – Tjaa, – sagte ein alter Mann neben der Gräfn bedächtig und schmatte dabei komisch mit den Lippen. – Es war unlängst ein Vorfall in Kurskaja Gubernia… Es brannten Grafen Dawydow Gutshof, Pferdestall und alle Wirtschaftsgebäude. Und da haben seine Leibeigenen alles, was sie nur vom brennenden Heim holen konnten, davongeschleppt, ohne Angst, sich vom Brandrauch zu ersticken. Und dann rannten sie mit dem ganzen Gut los… So ist es. In unserer Zeit…

      – Wie immer, haben Sie recht, Onkel, – wurde er von Natalja Andrejewna unterbrochen, die die Redseligkeit ihres bejahrten Verwandten kannte.

      – Das ist aber so grausam, – ließ sich ein junges Wesen ins Gespräch und begann, mit ihren großen braunen Augen entsett zu blinzeln.

      Die niedliche Gräfn mit ihren pechschwarzen Locken war ein voller Gegensat von Natalja Andrejewna. Diese junge Frau war ein kantiges und ungefüges Wesen. Besorgtheit überschatete ihr blasses Gesichtlein, das beim ersten Anblick ganz reizlos schien, aber auflühte und sich aufichtete, immer wenn ein Gedanke oder ein Gefühl es belebten, und ihre dunklen Augen strahlten dann und wann Erschrockenheit aus. Eine hochempfndliche Person, wurde die junge Gräfn bei jeder Herzensangst ohnmächtig.

      – Mon Dieu[4], – zwitscherte das junge Wesen weiter. – Wohin steuert denn Russland, wenn man schon vor seinen Leibeigenen Angst haben sollte? Wie hält man das alles aus?

      Sie war schon bereit, erneut in Ohnmacht zu fallen, aber da kam ein streng aussehender Mensch ins Gespräch:

      – Mir kommen Vorfälle in den Sinn, da sie revoltierten und die Gutshöfe ihrer Grundherren selbst in Brand setten, – brüllte Fürst Besborodski, den die Gesellschaft für einen energievollen, eigenwilligen und kompromisslosen Menschen hielt. Er hate zu jeder Zeit und von jeder Sache seine eigene – seines Erachtens einzig richtige – Aufassung, – Was immer man sagt, ist das Volk heute diebisch.

      – Das sind lauter Verleumdungen, Nikifor Andrejewitsch, – erwiderte ein statlicher Mann von etwa 40 Jahren, der einen eleganten tabakbraunen Rock trug. – Lauter Verleumdungen, meine Herrschaften. Glauben Sie meinen Worten.

      Ein Ausruf der Verblüftheit fog durch den Salon von Gräfn Orlowa-Denissowa. Mit unverhohlener Neugier guckten die Gäste auf den Sprechenden.

      – Treten Sie etwa für die Rotüre ein, Graf? – Ein ironisches Lächeln berührte das Gesicht von Natalja Andrejewna. – Nicht umsonst wurde Ihnen also Sympathie zu den Dezembristen nachgesagt.

      – Ganz und gar nicht, Gräfn, – erwiderte der Graf und sah die Gastgeberin vorwurfsvoll an. – Aber sie von Ihrer Meinung abbringen werde ich auch nicht. Ich muss gestehen: Als ich jung war, felen mir schön oft rebellische Gedanken ein. Glücklicherweise hörte alles somit auf: Nie würde ich den Eid brechen und meinen Herrscher betrügen.

      Der Graf warf mit Stolz seinen Kopf auf, sein Blick umkreiste auffordernd die Gesellschaft.

      – Ärgern Sie sich nicht, Iwan Dmitrijewitsch, – setzte sich Graf Akussin für Natalja Andrejewna ein, dem auffiel, dass die Worte die Gräfin bis ins Mark trafen. – Ich versichere Sie, dass Natalja Andrejewna nicht beabsichtigt hat, Sie mit solchen Verdächten zu verletzen.

      – Aber selbstverständlich, was für ein Unsinn, – redete die Dame des Salons ihm nach und sah den Grafen schmeichelnd an. Ihre entzückenden dunkelblauen, ein wenig geschlitzten und von langen Wimpern umrahmten Augen funkelten. Sie bedachte Grafen Lunin – den nächsten Freund ihrer Familie – mit einem strahlenden Lächeln, das seine Kälte blitzschnell auftauen ließ. Ein wenig rot vor Verwirrtheit, begann er etwas Undeutliches vor sich hin zu murmeln und senkte den Blick. Eine peinliche Pause kehrte in den Salon ein. Doch die junge Gräfin brach plötzlich die Stille.

      – Ihre Worte haben meine Neugierde erregt, Graf, – fing sie an zu sprechen, – Wollen Sie denn sagen, dass… so eine Eigenschaft wie Edelmut diesen Menschen eigen sei?

      Als sie das sagte, fuhr der Onkel von Natalja Andrejewna von seinem Schlummer im Sessel auf, schnatterte empört und schmatzte mit den Lippen.

      – Meine liebe Gräfin, – sprach Fürst Besborodski sie freundlich an, – ich erfreche mich eine Bemerkung zu machen, es kommt mir vor, Sie haben alles nicht so verstanden wie es gemeint war.

      – Doch. Die Gräfin hat ihren Gedanken ganz justement[5] geäußert – erwiderte Graf Lunin, der derzeit von seiner Verwirrtheit schon erholt hatte. – In jeder Schicht kann man die Menschen finden, denen edle Vorsätze nicht fremd sind.

      – Um Gottes Willen, Graf, – brauste der Fürst aus und sah Iwan Dmitrijewitsch zornig an, – Wie können Sie das behaupten? Wer sind die und wer sind wir?

      – Manchmal können auch unter geringen, analphabetischen, jämmerlich gekleideten Leuten warmherzigen und mitleidigen personnes begegnet sein, denen das fremde Leid nicht kalt lassen kann. Einmal wurde ich Zeuge eines tragischen, aber bemerkenswerten Vorfalls, dass meine Vorstellung von denen, die sie «Rotüre» nennen, für immer änderte.

      – Sie haben uns einen Floh ins Ohr gesetzt, – sagte Gräfin Orlowa-Denissowa mit Neugierde. – Seien Sie so lieb und erzählen Sie uns diese spannende Geschichte, damit auch wir unsere Vorstellung vom russischen Volk ändern könnten.

      – Tun


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<p>1</p>

La honnêteté (fr.) – Ehrlichkeit

<p>2</p>

Ma chérie (fr.) – meine Liebe

<p>3</p>

Nous continuerons, mes amis (fr.) – Fahren wir fort, meine Freunde

<p>4</p>

Mon Dieu (fr.) – mein Gott

<p>5</p>

Justement (fr.) – genau