Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing


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aber wahrlich nicht als ein gutes Stueck, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koemmt, doch noch ein Hinkender.

      Eine Stelle in dem Epilog ist einer Missdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:

          "Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,

          In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind."

      Quin, habe ich darwider erinnern hoeren, ist kein schlechter Schauspieler gewesen.—Nein, gewiss nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil fuer seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil fuer sich: man weiss, dass er in der Tragoedie mit vieler Wuerde gespielet; dass er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuege zu leisten gewusst; dass er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer groessten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Missverstaendnis liegt bloss darin, dass man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und ausserordentlichen Schauspieler einen schlechten, und fuer schlecht durchgaengig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier einen von der gewoehnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der ueberhaupt seine Sache so gut wegmacht, dass man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heissen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, fuer den das einstimmige Geruecht schon laengst den Garrick erklaeret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den Koenig im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoedie waren2; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick der groesste Akteur? Er schien ja nicht ueber das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das fuer eine Kunst, ueber ein Gespenst zu erschrecken? Gewiss und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen haetten, so wuerden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der andere hingegen, der Koenig, schien wohl auch etwas geruehrt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle moegliche Muehe, es zu verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!"

      Bei den Englaendern hat jedes neue Stueck seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoerer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindem Verstaendnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stueckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium fuer den Dichter, oder fuer den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl ueber ihn als ueber die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die voellige Aufloesung des Stuecks, die in dem fuenften Akte nicht Raum hatte, darin erzaehlen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen ueber die geschilderten Sitten und ueber die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aendern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts Ungewoehnliches, dass nach dem Blutigsten und Ruehrendsten die Satire ein so lautes Gelaechter aufschlaegt und der Witz so mutwillig wird, dass es scheinet, es sei die ausdrueckliche Absicht, mit allen Eindruecken des Guten ein Gespoette zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuenschte, dass auch bei uns neue Origina1stuecke nicht ganz ohne Einfuehrung und Empfehlung vor das Publikum gebracht wuerden, so versteht es sich von selbst, dass bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein muesste. Nach dem Lustspiele koennte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei den Englaendern Meisterstuecke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groessten Vergnuegen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil laengst vergessen sind. Hamburg haette einen deutschen Dryden in der Naehe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu wuerzen, so gut als der Englaender verstehen wuerde.

      Achtes Stueck Den 26. Mai 1767

      Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt.

      Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgefuehret. Dieses Stueck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der ruehrenden Gattung, der man den spoettischen Beinamen der Weinerlichen gegeben. Wenn weinerlich heisst, was uns die Traenen nahe bringt, wobei wir nicht uebel Lust haetten zu weinen, so sind verschiedene Stuecke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Stroeme von Traenen; und der gemeine Prass franzoesischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefaehr so weit, dass uns wird, als ob wir haetten weinen koennen, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden haette.

      "Melanide" ist kein Meisterstueck von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnuegen. Es hat sich selbst auf dem franzoesischen Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muss ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wuenschte.

      Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muss es zum Troste des groessten Haufens unserer Uebersetzer anfuehren, dass ihre italienischen Mitbrueder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa uebersetzen, erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich moechte wohl sagen, etwas anders. Allzu puenktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmoeglich alles, was in der einen Sprache natuerlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich waessrig und schielend. Denn wo ist der glueckliche Versifikateur, den nie das Silbenmass, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas staerker oder schwaecher, frueher oder spaeter, sagen liesse, als er es, frei von diesem Zwange, wuerde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiss; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaenzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlaessigkeiten seines Originals ueberliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache fuer sie machen.

      Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen, doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit der Deklamation


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Teil VI, S. 15.