Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen

Signaturen der Erinnerung - Thomas Ballhausen


Скачать книгу
ist nicht nur ein Indiz für eine Änderung im Sammlungsverhalten, die etwa auch die Integration von Nachlässen vorsieht, sondern auch vitaler Bestandteil einer weitergehenden Erschließungspolitik bereits vorhandener Bestände. Die heterogene, nicht immer problemlose Beschaffenheit des Materials macht die Entwicklung eigener Standards für diese fach- und materialgerechte Erschließung notwendig, die je nach Organisationsform der Institution, Fertigkeiten der Mitarbeiter und Beschaffenheit des Materials unterschiedlich ausformuliert sein können.

      Es gibt aber durchaus allgemeingültige Bereiche, die für alle Filmarchive von Bedeutung sind: So ist, ganz im Gegensatz zum Medium Buch, für die audio-visuellen Medien praktisch keine Redundanz im Material selbst feststellbar. D. h. jede noch so geringe Beschädigung führt fast automatisch auch zu einem Verlust von Informationen oder auch zur Beeinträchtigung der Integrität des gesamten Trägers. Neben der Gefahr der Obsoleszenz, also dem Auslaufen der Produktion von Abspielgeräten, auf die man zur Nutzung von Materialien angewiesen ist, liegt ein nicht zu unterschätzender Problembereich im Material selbst begründet. Neben der sensiblen Zusammensetzung von Filmmaterial generell (Bonwitt, 1912, 371ff.) weisen Speichermedien im Allgemeinen eine zeitlich gesehen immer kürzere stabile Integrität auf und sind durch die industrielle Entwicklung in diesem Bereich der Technik eher auf eine Steigerung der Datendichte und weniger auf Datensicherheit im Sinne einer permanenten Erhaltung angelegt. Es sind also zweifellos die Bestände, die die wesentlichen Grundlinien der Arbeit vorgeben und auf die sich die notwendige Eigenständigkeit der Filmarchive gründet:

      „Zusammenfassend gesagt gilt also, dass die Berechtigung von eigenständigen AV-Archiven darin besteht, dass diese spezielle Funktionen erfüllen, die ihnen keine andere Informationseinrichtung abnehmen kann. Diese speziellen Funktionen wiederum haben sich aus der strukturellen Eigenart der audio-visuellen Medien ergeben. Sie haben, nochmals gesagt, die Fähigkeit des Abspiegelns, die unter anderem die Möglichkeit zum aktiven Dokumentieren an die Hand gibt, die Besonderheit des Trägers bzw. der Art, die Information auf einen Träger zu bringen, d. h. die enorme Verletzlichkeit des Mediums, und schließlich das Nebeneinander von publiziertem und nicht-publiziertem Material, bzw. von Werk und dokumentarischer Aufzeichnung“ (Hubert, 1993, 69).

       1.3.5 Zur Politik des Archivs

      Die Aufgabenbereiche der Filmarchive lassen sich unter folgenden Unterpunkten zusammenfassen: Sammeln, Restaurierung und sogenannte Preservation, Erschließung, Bereitstellung und Aufarbeitung. Diese Schritte, die hier im logischen Ablauf beschrieben werden, stellen sehr deutlich den Lebenskreis eines Filmes im Archiv und die erstrebenswerte Idealsituation für nationale Filmarchive dar: „[D]ie Wahrnehmung der archivalischen Aufgaben eines nationalen Filmarchivs gilt der Erfassung, Sicherung, Erhaltung und Erschließung der nationalen Filmproduktion“ (Kahlenberg, 1978, 146).

      Das Auffinden von Material, auch unter oben beschriebenen Schwierigkeiten, kommt unter den unterschiedlichsten Umständen zustande. Die ersten großen Sammlungen waren von den Institutionen aus Privatbeständen übernommen worden. Trotz der regen Sammeltätigkeit während dieses Zeitraums ist die Überlieferungssituation für die frühe Phase des Films nicht besonders gut. Umso wichtiger ist, gemäß der Ausrichtung der jeweiligen Institution bzw. Abteilung, eine aktive Akquisitionspolitik, in der auch die neueren Formate – wie etwa Video oder DVD, die in den letzten Jahren besonders bei kleineren Produktionen zum Originalmaterial avancierten – berücksichtigt werden. Für diese permanente Bestandserweiterung gilt die Prämisse einer sachlichen und behutsamen Selektion des angebotenen Materials ebenso wie die Gleichwertigkeit von Spiel- und Dokumentarfilmen und der Austausch von Belegkopien im Sinne eines nationalen Vollständigkeitsauftrages, für dessen Erfüllung eine restriktive Pflichtexemplarabgabe durchaus förderlich wäre. Noch unentschieden ist hingegen die Frage, ob eine Form der „Zwangsarchivierung“ (Kahlenberg, 1978, 149) nationaler Produktionen langfristige Vorteile bringt oder nur unnötig Ressourcen bindet. Ein Feld, das in diesem Zusammenhang wohl auch immer wieder neu zu diskutieren sein wird, ist die Archivierung von TV-Produktionen, die ja aufgrund ihrer Beschaffenheit zumindest zu großen Teilen archivwürdig wären. Mit Fragen wie dieser berührt man den sensiblen Bereich, den man gemeinhin wohl aller „Verpflichtung zum Archiv“ (Derrida, 1997, 135) als die Politik der Archive bezeichnen müsste:

      „Jeder Archivar gehorcht einer bestimmten ‚Politik der Archive‘, denn die Entscheidung darüber, ob ein Dokument als archivwürdig anzusehen ist, folgt der Anwendung eines bestimmten Selektionsprinzips. Dieses Selektionsprinzip ist sowohl inklusiv als auch exklusiv. Es entscheidet nicht nur über die Aufnahme ins Archiv, sondern auch über den nachträglichen Ausschluß aus dem Archiv, die sogenannte ‚Kassation‘“ (Wirth, 2005, 17).

       1.3.6 Preservation und Präsentation

      Die Restauration, die ja eigentlich eine individuelle Lösung zur sachgerechten Behebung einzelner Schäden meint, wird im Filmbereich oft mit Preservation umschrieben, womit ein wesentlich umfassenderes Programm zur Sicherung des Bestandes gemeint ist: „[P]reservation incorporates all the measures which in the long run guarantee a maximum of safeguarding, protection of and access to film“ (Klaue, 1990, 88). Der Bereich Preservation wird von vielen Filmarchiven als einer der wichtigsten Arbeitsbereiche erachtet, was sich auch durch das Filmmaterial und dessen Beschaffenheit erklären lässt, das gleichermaßen eine schwierige Herausforderung und ein schützenswertes Gut darstellt. Film ist ein überaus heikles, sogar gefährliches Material, wie in der unlängst erschienenen Aufsatzsammlung zur Geschichte des Nitrozellulosefilms, die nicht zu Unrecht den Titel This Film is Dangerous (Smither, 2002) trägt, nachgewiesen wird. Die Erklärung dieser Gefahr liegt aber weniger im Inhalt der jeweiligen Filme als in der physischchemischen Beschaffenheit des Materials. Film wurde bis Mitte der Fünfzigerjahre auf sogenanntem Nitrozellulosefilm gedreht – einem haltbaren, doch überaus problembelasteten Material. Alterungs- und lagerungsbedingte Schrumpfungsprozesse beeinträchtigen den Filmstreifen ebenso wie ein endogener Zerfallsprozess, also ein chemischer Vorgang, der durch die Zusammensetzung des Materials bedingt ist. Das wohl bekannteste Problem dieses Materials ist die extreme Brennbarkeit, die bei bereits vom Zerfall bedrohten Nitrofilm auch zu Fällen von Selbstentzündung bei Temperaturen von wenig über 40 Grad Celsius führen kann.

      Schon kurz nach dem ersten großen, opferreichen Kinobrand 1897 in Paris wurde der Ruf nach einem alternativen Filmmaterial laut. Bereits 1902 fanden erste Versuche in dieser Richtung statt, und laut einer entsprechenden Notiz der New York Evening Times vom 15. Juni 1909 wäre der sicherere Azetatzellulosefilm erhältlich gewesen. Belege für die Verwendung dieses neuen, weniger brennbaren Filmmaterials gibt es aber erst für das Jahr 1912 durch den Kinopionier George Eastman und das Jahr 1914 im Rahmen einzelner Pathé-Wochenschauen (Fordyce, 1976). In der Zwischenkriegszeit war der neue Azetatzellulosefilm durchaus schon regelmäßig in Verwendung, der Versuch, dieses Material als generellen Ersatz für Nitrofilm durchzusetzen, wurde aber durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert. Erst nach Ende des Krieges konnten gesetzliche Verordnungen bezüglich des Azetatfilms und der verbesserten Variante des Triazetatfilms – beide werden gemeinhin als Sicherheitsfilm bezeichnet – durchgesetzt werden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde eine entsprechende Verordnung 1957 erlassen, in Österreich 1966.

      Prinzipiell hat ein Filmarchiv bei der Restauration eines Films mit zwei Schadensarten zu tun: Beschädigungen des Materials, die bei der Produktion passiert sein können oder durch den Gebrauch des Films zustandegekommen sind, sowie Schäden, die durch unsachgemäße Lagerung verursacht wurden. Preservation geht somit Hand in Hand mit der Konservierung, also der Aufbewahrung des Materials in Hinblick auf Bewahrung und die regelmäßige Überprüfung bereits aufgenommener Filmbestände. Je umfangreicher der Bestand, desto umfassender und auch zeitintensiver gestalten sich die Arbeiten an bereits angesammelten Materialien (Regel, 1998). Zur sachgerechten Lagerung gehören wiederum geeignete Räumlichkeiten, die besondere Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnisse garantieren müssen. Die ideale Filmdeponierung muss zwei klimatischen Lagerungsprinzipien gehorchen: kühl, weil damit die im Material ablaufenden chemischen Prozesse verlangsamt


Скачать книгу