Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt

Nicht nur am Leben bleiben - Vera Wendt


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      Vera Wendt

       Nicht nur amLeben bleiben

      © 2020 Vera Wendt

      Umschlag: Christopher Wehnl

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN

Paperback:978-3-347-05894-1
Hardcover:978-3-347-05895-8
e-Book:978-3-347-05896-5

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

       1

      Die Briefmarke mit dem Leninkopf fiel Mathilde sofort auf. Post aus der DDR, wo jetzt, 1970, der 100. Geburtstag des Revolutionärs gefeiert wurde. Wer sollte ihr von dort schreiben? Ihre Schwiegermutter war schon gestorben und ihre alte Bekannte, die Blumenhändlerin, schrieb nicht um diese Jahreszeit. Nein, es war ein offizielles Schreiben von der Gemeindeverwaltung Mittendorf. Mathilde betrachtete den Umschlag mit einer Mischung aus Erstaunen und Wehmut. Es kam ihr vor wie eine Botschaft aus vergangenen Zeiten. 1952, vor 18 Jahren, war sie das letzte Mal dort gewesen, wo sie gute Jahre und auch die schlimmste Zeit ihres Lebens erlebt hatte. Sie war Opfer der politischen Verhältnisse geworden, Opfer der deutschen Teilung, Opfer willkürlicher Maßnahmen der DDR-Regierung. Von einem Tag auf den anderen hatte sie als West-Berlinerin nicht mehr in die DDR gedurft, nicht mehr auf ihr Grundstück, nicht mehr in ihren Garten, nicht mehr auf den Friedhof. Was wollte die Behörde wohl von ihr? Eine Einladung war es bestimmt nicht. Am Ende sollte sie für irgendetwas bezahlen, die DDR war ja gierig nach Westgeld. Und woher kannte sie ihre Adresse?

      Mathilde griff zum Brieföffner, öffnete den Umschlag und erstarrte. Der Brief war von der Friedhofsverwaltung. Die Liegezeit von 25 Jahren war abgelaufen. Sie musste entscheiden, ob sie das Grab ihrer kleinen Tochter aufgeben oder weitere Jahre bezahlen wollte, Formulare anbei.

      25 Jahre – was für eine lange Zeit. Damals, 1945, war es Sommer gewesen, der erste Friedenssommer, der erste Sommer ohne Bomben seit langer Zeit. Und der Sommer, in dem sie den Friedhof in Mittendorf kennen lernte, den sie vorher nie beachtet hatte. In ihrer Erinnerung war er dörflich, mit einem windschiefen hölzernen Kapellchen. Nicht weit davon hatte sie 1945 ihre kleine Tochter begraben müssen. Elsbeth, die große Freude ihres Lebens, war sieben Monate alt, als sie starb.

      Bei ihrer Geburt im Dezember 1944 tobte rundherum der längst verlorene Krieg, Bomben hatten die Wohnung der Familie zerstört, Mathildes Mann Gustav war an der Front – aber sie hatte ihr Kind, das ihr strahlend schön erschien, wie vom Herrgott geschickt. Sie konnte gut stillen, das kleine Mädchen gedieh, weinte selten und schien unter den katastrophalen Verhältnissen nicht zu leiden. Die einzige Hoffnung für die Zukunft.

      Als auch die Wohnung ihrer Eltern den Bomben zum Opfer fiel, gab es im zerbombten Berlin keine Bleibe mehr für sie. So wich sie im März 1945 mit ihren Eltern und dem Baby in die Laube nach Mittendorf aus. Diese war zwar schlecht heizbar, hatte nur einen Raum und weder fließendes Wasser noch Elektrizität, aber es gab nicht dauernd Bombenalarm, das war das Wichtigste. Warum überhaupt noch Bomben fielen, verstand Mathilde sowieso nicht. Der Krieg war verloren und Deutschland war untergegangen. Was danach kommen würde, wusste niemand, es erschien ihr wie ein schwarzes Loch.

      Als die Russen kamen, trat Mathilde ihnen mit dem Kind auf dem Arm entgegen und entging so den üblichen Vergewaltigungen. Viele Soldaten waren sehr kinderlieb, spielten mit der Kleinen und schenkten Mathilde einen Laib Kommissbrot. Die Großmutter hatten sie vorsichtshalber in der Zisterne versteckt.

      Im Laufe des Sommers normalisierte sich die Lage ein wenig, soweit man in diesen Zeiten von „normal“ reden konnte. Der Flieder hatte nie so schön geblüht wie in diesem Jahr, die Erdbeeren aus dem Garten schmeckten besonders gut. Ihr Vater hatte sie mit Hingabe gepflegt.

      Es war ihr gelungen, im Dorf Milch aufzutreiben, die Elsbeth offenbar gut vertrug. Sie musste nicht mehr ständig stillen. So beschloss sie, Ende Juni für zwei Tage nach Berlin zu fahren. Das Haus im Bezirk Tiergarten, in dem sie selbst bis 1943 gewohnt hatte, war nur noch Schutt und Asche, das wusste sie. Aber bei der 1½-Zimmer Wohnung der Eltern in Prenzlauer Berg war bloß eine Wand des Hauses zusammengebrochen. Wenn es möglich war, sie wiederaufzubauen, konnten sie vielleicht im Herbst dorthin zurück, denn die Laube war nicht winterfest zu machen. Das wollte sie erkunden und ein paar Freundinnen von früher suchen, um zu sehen, ob sie noch lebten. Irgendwo würde sie schon übernachten können. Es war unmöglich, genaue Pläne zu machen, aber sie hoffte, am übernächsten Tag wieder zurück zu können, so lange würde das Brot in ihrem Rucksack als Verpflegung reichen.

      Seit die Russen ihr Rad geklaut hatten, musste sie immer zu Fuß laufen. Der Weg zur Bahn dauerte so eine Dreiviertelstunde. Sie hätte das Rad sowieso nicht mehr wie früher in den Zug mitnehmen können. Zum Glück war der Bahnhof ohne Bombenschaden davongekommen und die Züge fuhren, wenn auch selten und ohne Fahrplan. Wie üblich waren die Waggons total überfüllt, aber sie schaffte es, sich in einen Wagen hineinzudrängen. In dem Verbindungsstück zwischen zwei Waggons musste sie sich zwar gut festhalten, aber sie wäre weich gefallen, weil das Gedränge groß war.

      Das Zentrum Berlins schien auf den ersten Blick nur aus Schutt und Ruinen zu bestehen. Ganze Straßenzüge waren ausgelöscht, viele Häuser zu Trümmerbergen geworden, von anderen waren nur noch Teile vorhanden. Es herrschte eine unheimliche Stille, wie in einer Totenstadt. Mathilde hatte Monate zuvor nach dem Bombenangriff auf das Haus ihrer Eltern Berlin fluchtartig verlassen, jetzt begriff sie, wie stark die Stadt als Ganzes getroffen worden war. Sie musste an Schillers „Glocke“ denken: „Aus den öden Fensterhöhlen scheint das Grauen …“ und auch an den folgenden Vers: „und sieh, ihm fehlt kein treues Haupt“. Ihr fehlte zwar Gustav, aber sie hatte ihre Eltern und ihre Tochter, dafür galt es dankbar zu sein.

      Als sie von der Innenstadt in Richtung Prenzlauer Berg lief, sah sie mehrere Häuser, die nur teilweise zerstört waren. Manchmal war nur eine Wand weggesprengt, sodass das Innere der Wohnungen wie bei einer Puppenstube sichtbar war. „Schloss Sperlingslust“ nannte der Volksmund diesen Zustand. So fand sie auch die elterliche Wohnung vor. Die Wand zum Hof war weggesprengt, und sie konnte die Inneneinrichtung von dort aus sehen. Ihre 1 1/2 kleinen Zimmer mit Küche im dritten Stock sahen von unten unversehrt aus, als ob jemand sie gerade verlassen hätte. Sie waren dick mit Schutt und Staub bedeckt, dennoch wirkten sie ordentlich und aufgeräumt, wie ihre Mutter es gerne hatte.

      Unter normalen Umständen wäre das Betreten des Hauses verboten gewesen, aber es gab keine Normalität mehr. Sie sah, dass im ersten Stock jemand wohnte. Ob das wohl die alte Frau Winterstein war? Mathilde hatte ihr ganzes Leben bis zu ihrer Heirat vor vier Jahren in diesem Haus verbracht und war zurückgekommen, als sie in Tiergarten ausgebombt wurde. Sie kannte alle Bewohner, wusste aber nicht, wer den Bombenangriff überlebt hatte und wer nicht. Frau Winterstein hatte sie schon als Kind fasziniert, es ging etwas Geheimnisvolles von ihr aus. Sie musste schon lange Witwe sein und die Nachbarn fragten sich, wovon sie lebte. Es hatte wohl etwas mit den häufigen Besuchern, Frauen und manchmal auch Männern aller Altersstufen zu tun.

      Zuerst suchte Mathilde ihre alte Toilette auf halber Treppe auf und stellte fest, dass das Wasser wieder funktionierte und auch das Licht. Danach klopfte sie an der Wohnung im ersten Stock. Frau Winterstein freute sich sehr sie zu sehen. Ihre Wohnung hatte noch ein Zimmer zur Straßenseite, in dem sie derzeit wohnte, sodass sie nicht auf der offenen Hofseite wie auf dem Präsentierteller sitzen mussten.

      „Ach Mathildchen – ich darf doch noch so sagen, nicht wahr? – wie schön, dass Sie leben! Wie geht es Ihren Eltern und der kleinen Elsbeth? Sie war wirklich ein besonders süßes Baby! Und immer so fröhlich trotz der Verhältnisse.“

      Mathilde versicherte ihr, dass alle noch am Leben und wohlauf waren. Frau Winterstein


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