Der Hungerturm. Michael Thumser

Der Hungerturm - Michael Thumser


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      © 2011, 2020 Michael Thumser M.A.

      2., durchgesehene Auflage

      Einbandgestaltung: Hugo Enristal

      (Foto: Pixabay)

      Autorenfoto (Seite 287): © Dr. Mechthild Habermann, 2020

      Printed in Germany.

      

Eine Publikation des Hochfranken-Feuilletons, Hof

      

Verlag und Druck: tredition GmbH,

      Halenreie 40-44, 22359 Hamburg.

ISBN
Paperback:978-3-347-17237-1
Hardcover:978-3-347-17238-8
e-Book:978-3-347-17239-5

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Michael Thumser

      Der Hungerturm

      Dreizehn Erzählungen

       Für Sigi,

       die mir in vierzig Jahren wenig vorenthalten und das meiste erspart hat.

      Inhalt

      Damals

      Die heimliche Jagd

      Güges

      Frühstück mit Elenor

      Der Hungerturm

      Die Lösung oder Im Lauf der Jahre

      Schattenspiele

      Renaissance

      Tun und Lassen

      Der gemachte Mann

      Das Ende ist alles

      Irgendwohin

      Das Lied von der Nacht

      Über den Autor

      Sie sagen,

      dass die Liebe bitter schmecke.

      Oscar Wilde,

      SALOME

      DAMALS

      Damals hatte sie gesagt:

      Bleib,

      und er war vor der Tür stehen geblieben, hatte seine Tasche abgesetzt und sich langsam umgedreht. Dann war sie auf ihn zugekommen, sehr vorsichtig erst, und hatte gewartet, dass er sie in den Arm nähme; so lange, bis er es tat.

      Später hatten sie im Wohnzimmer gesessen. Sie fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, und als er um Kognak bat, schenkte sie zwei Gläser ein. Dann stießen sie an.

      Wir sollten nicht so unvernünftig sein, sagte sie.

      Eine Zeit lang ging es. Er saß jetzt viel in seinem Zimmer, weil er vor dem Examen stand und lernen musste, sodass sie sich nicht oft begegneten. Sie ging zur Arbeit oder kochte, und mit der Zeit stellte sich wieder das Gefühl bei ihr ein, ihrer beider Leben zu versorgen und zufrieden sein zu dürfen. Manchmal kam er in die Küche und legte ihr wie früher die Hände auf die Schultern, wenn sie vor der Spülmaschine oder dem Kühlschrank stand; manchmal küsste er sie in den Nacken, und sie erinnerte sich, dass sie das vor einiger Zeit noch sehr gern gemocht hatte; dann war sie fast ein wenig gerührt, dass auch er sich erinnerte und es ihr zu gefallen weiterhin tat. Woher sollte er wissen, dass sie seit damals weniger empfand dabei?

      Eines Abends kam er wieder mit einem Band Gedichte, und sie nickte, setzte sich auf dem Sofa gemütlich zurecht (dabei nahm sie die Füße hoch und legte eine Hand auf die Knöchel) und wartete, dass er zu lesen begänne. Eine Weile blätterte er, manchmal setzte er an, entspannte sich aber gleich wieder und suchte erneut.

      Ich finde nichts, sagte er.

      Das Buch ist voll, antwortete sie; und er suchte weiter.

      Lassen wir es, meinte er und wollte den Band beiseitelegen.

      Lies ruhig welche, die wir schon kennen.

      Und er las einige. Aber nach dem dritten meinte auch sie, er solle aufhören. Später stellte er den Fernseher an.

      Früh lag er manchmal länger als sie im Bett, besonders dann, wenn er in der Nacht zuvor lange aufgeblieben war und gearbeitet hatte.

      Sie ließ es zu und hatte nichts dagegen, an solchen Morgen das Frühstück allein zurechtzumachen, denn sie liebte diese halbdunkle Stunde, in der kaum Geräusche in der Wohnung waren und die Heizung langsam warm wurde. Das war schon immer so gewesen: sie nahm sich Zeit mit allem und sah erst lange aus dem Fenster oder blätterte in der Zeitung, bevor sie sich anzog und die Brötchen holte.

      An einem Sonntag stand sie fast eine Stunde am Fenster und beobachtete den Sonnenaufgang und die Vögel im Garten und auf den Drähten. Solche Spätherbstmorgen hielt sie für die schönsten im ganzen Jahr. Blätter lagen braun überall auf den Straßen, und die Sonne wärmte schon nicht mehr, nicht einmal mehr an Tagen, die so wolkenlos zu werden versprachen wie dieser. Aber die Luft, wenn sie ganz kalt war, roch gut und war mühelos zu atmen und nicht so zäh wie an den drückend schwülen Stadtsommertagen.

      Sie machte das Fenster auf und ließ die Wärme aus dem Zimmer; ihr Schlafanzug begann kalt zu werden, und eine Gänsehaut lief über ihren Körper. So stand sie noch eine Weile und streckte ihren Kopf weit hinaus, atmete tief und sah dem Dampf nach, den sie langsam aus der Nase strömen ließ.

      Als sie ein paar Geräusche aus dem Schlafzimmer hörte, schloss sie das Fenster und ging hinüber. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und sah auf die Uhr.

      Guten Morgen, sagte sie.

      Er brummte: Es ist spät.

      Das macht nichts. Heute ist Sonntag.

      Er nahm sie bei der Hand und versuchte, sie zu sich hinunterzuziehen. Er lächelte.

      Aber sie machte sich los. Du hast gestern Abend vergessen, das Mundwasser zuzuschrauben. Jetzt ist der Alkohol verflogen und das Zeug wertlos geworden.

      Einmal, als sie sich geliebt hatten, steckte er sich eine Zigarette an, legte den Arm unter den Kopf und fragte sie:

      Bist du müde?

      Nein, sagte sie. Gib mir auch eine.

      Sie rauchten.

      Früher, sagte sie nach einer Weile, sind wir danach oft noch einmal aufgestanden und mitten in der Nacht in die Stadt gefahren.

      Ja. Er erinnerte sich. Damals hatte ich den Kopf nicht so voll wie heute. Übrigens werde er nun häufiger nicht zum Mittagessen zu Hause sein, sondern in der Stadt bleiben, um in der Bibliothek zu arbeiten.

      Wenige Monate vor den Prüfungen war er an den Wochenenden oft so müde, dass er schon am frühen Abend in einem Sessel einschlief. Sie löschte dann alle Lichter bis auf zwei Tischlampen, setzte sich ihm gegenüber und las oder strickte. Nach ein, zwei Stunden dann, wenn sie das Buch oder die Handarbeit zur Seite legte, um zu Bett zu gehen, blieb sie oft noch eine Weile sitzen, bevor sie ihn weckte, und beobachtete ihn. Und sie wunderte sich, dass ihr so vieles noch nie aufgefallen war: seine schlechte Rasur zum Beispiel, oder die verschnittenen, brüchigen Fingernägel. Er hatte sich schon immer vernachlässigt, und sein Äußeres wars nie gewesen, was sie zu ihm hinzog. Aber erst jetzt fiel es ihr auf.

      Als der Winter kam, sah sie nicht mehr viel von ihm. Manchmal kamen Freunde, mit denen er sich dann in sein Zimmer zurückzog und bis in die Nacht hinein arbeitete. Darum ging sie immer öfter spazieren; noch dazu waren die ersten kalten Tage sonnig, und die dicken Schneehauben auf den Zaunpfählen und die weiß eingehüllten Zweige der Bäume gefielen ihr.

      Nach


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