Krokodile. Angie Volk

Krokodile - Angie Volk


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      Alexander Oetker

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      Luc Verlains erster Fall

      Roman

      Hoffmann und Campe

      Für Jasmin

      Lundi – Montag Retour

      Kapitel 1

      »Mein Gott, wie öde.«

      Luc Verlain schnaubte verächtlich, als er unter der Pont François-Mitterrand die graue Plörre sah. Die träge dahinfließende Garonne bahnte sich ihren Weg in Richtung Bordeaux – und in Richtung Atlantik. Morgens um vier war er in Paris losgefahren, fünfeinhalb Stunden hatte Luc bis hierher gebraucht. Immer wieder war sein Blick auf den Tacho gefallen: 120 km/h. Normalerweise fiel es ihm schwer, sich an das erlaubte Tempo 130 auf Frankreichs Autobahnen zu halten. Doch heute hatte er seinen alten blauen Jaguar XJ6 unbewusst immer wieder abgebremst, gerade so, als wollte er die Fahrt von Paris in die Provinz auf Tage verlängern. Als wollte er nie ankommen.

      Nun aber war er da, sein Blick fiel auf das Schild auf der Brücke: Bordeaux Centre. Er setzte den Blinker und fuhr von der Route Nationale auf die kurze Autobahn, die ihn immer am Fluss entlang in die Stadt bringen sollte. Links lagen die Gewerbegebiete, der alte riesige Schlachthof, der schon seit einigen Jahren außer Betrieb war. Auf der anderen Seite am rechten Ufer des Flusses standen kleine Häuser auf Stelzen im Fluss, Hütten für Angler. Die Boote schaukelten angeleint davor und warteten auf ihren nächsten Einsatz auf dem grauen Fluss.

      Die Garonne war für Luc schon immer ein Phänomen gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg durch Bordeaux und dann weiter durchs Médoc, wo sie sich mit der Dordogne zur Gironde vereinigte, ehe sie sich in der riesigen Mündung nördlich von Soulac in den Atlantik ergoss. Touristen fanden ihre grau-braune Farbe häufig abstoßend, Luc aber wusste, dass sie nichts damit zu tun hatte, dass der Fluss verschmutzt war. Es war vielmehr Natur pur: Durch die Gezeiten wurde das Wasser des Atlantiks weit in die Mündung der Garonne gedrückt, mit dem ganzen Salz, das der Ozean enthielt. Im Fluss traf das Salz auf die Tonpartikel, die die Garonne aus Spanien mit sich führte, und Ton und Salz ergaben die braune Farbe.

      Eine halbe Stunde von hier landeinwärts lagen die Weinberge von Saint-Émilion, eine halbe Stunde westlich die Strände des Atlantiks. Wie viel Zeit er hier verbracht hatte … Es war, als sei er wieder sechzehn und verdammt, für immer hierzubleiben. In den letzten fünfzehn Jahren war Luc höchstens mal für ein paar Tage hergekommen. Nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte, plagte Luc sein schlechtes Gewissen: Eigentlich hielt er es hier im Aquitaine nicht mehr aus, aber er wollte für seinen Vater da sein, seinen einsamen Vater, den er immer so bewundert hatte. In der Vergangenheit war meistens nichts daraus geworden. Manchmal war er ein ganzes Jahr lang nicht hier gewesen. Sein alter Herr hatte ihn ab und zu in Paris besucht, aber seit einigen Jahren mochte er nicht mehr Zug fahren und verabscheute die laute hektische Hauptstadt. Und nun, dieses Mal, würde Luc bleiben müssen. Ein halbes oder vielleicht auch ein ganzes Jahr. Er wusste noch nicht, wie lange. Für seinen Geschmack aber auf jeden Fall zu lange.

      Er lenkte den Wagen von der Autobahn runter in Richtung Gare Saint-Jean. Hinter dem Bahnhof bog Luc nach links ab in Richtung Stadtzentrum. Er scheute sich davor, schon jetzt am Place de la Bourse vorbeizufahren – diesem hochherrschaftlichen Platz im Zentrum der Stadt mit seinen pompösen Palästen. Dieses Wahrzeichen Bordeaux’ symbolisierte alles, was die Stadt für Luc ausmachte und was er verabscheute: die Bourgeoisie, die überbordende Arroganz des Bürgertums, der zur Schau gestellte Reichtum und die Spießigkeit. Dagegen hatte er sich als Jugendlicher aufgelehnt – und deshalb war er als junger Polizist von hier geflohen. Niemals hätte er länger in Bordeaux leben können. Und er wollte es auch jetzt nicht.

      Wenn er den guten Wein aus der Region trinken oder Austern aus Arcachon essen wollte, konnte er auch in Paris in die Galeries Lafayette gehen oder seinem Lieblingsrestaurant Fontaine de Mars, ganz in der Nähe seiner Wohnung im 7. Arrondissement, einen Besuch abstatten. Dort servierten sie die typischen Gerichte aus dem Südwesten des Landes in Perfektion, und Luc konnte sie genießen, ohne die spießigen kleinen Orte an der Küste aufsuchen zu müssen. Doch nun war er zum Hierbleiben verdammt.

      Heute lag die Stadt sonnig da, und Luc betrachtete die großen hellen Gebäude mit den bodentiefen Sprossenfenstern, für die die Stadt des Weines berühmt war. Er seufzte und fuhr seinen Schleichweg am Bahnhof vorbei über den Place de la Victoire mit dem Obelisken und dann in Richtung Mériadeck. Der Name des Viertels klang lieblich und passte so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung. Die Stadtoberen hatten in den Sechzigern ausgerechnet hier das Geschäftsviertel der Stadt erbaut, mit gesichtslosen Büroblöcken, grauen Parkhäusern und unförmigen Betonklötzen. Weinliebhaber, die aus aller Welt mit großen Erwartungen in die Stadt kamen, mussten von der Realität bitter enttäuscht sein. Und genau hier lag auch das Hôtel de Police, das Hauptquartier der Police Nationale. Es war nur einen Katzensprung entfernt vom touristischen Zentrum der Stadt hinter dem Rathaus und der Kathedrale, untergebracht in einem dieser scheußlichen modernen Neubauten.

      »Bonjour Tristesse«, murmelte Luc und dachte wehmütig an das wunderschöne Commissariat in Paris, die alten Mauern auf der Île de la Cité, den Blick auf die Seine. Und an seine Wohnung hinter dem Musée d’Orsay, umgeben von kleinen Läden und hippen Galerien. Er konnte mit seiner Vespa zur Arbeit rasen, über die Quais und durch die kleinen Pariser Gassen. Nun sollte er hier arbeiten – in diesem grauen Kasten in Bordeaux. Er holperte über die Schienen der Straßenbahn und parkte den alten Jaguar vor dem Commissariat im Halteverbot.

      Als er ausstieg, spürte er den Wind des Meeres. Bis hierher drang er, die ganzen fünfzig Kilometer vom Atlantik herüber. Es war windig heute, fast stürmisch. Dieses unbändige Strömen, das durch nichts aufgehalten zu werden schien. Wer einmal eine Nacht im Sturm am Atlantik erlebt hatte, der wusste, wovon Luc sprach. Wenn die Wellen mit großem Getöse gegen den Strand peitschten, schafften es der Wind und die Möwen bis in die Gassen von Bordeaux. Luc Verlain hatte viele von diesen Nächten durchstehen müssen. Auf dem Boot seines Vaters auf dem Bassin d’Arcachon und im Haus am Meer in Carcans Plage. Er fühlte sich als Kind im Auge des Sturmes so klein. Und auch jetzt, als erwachsener Mann, hatte sich dieses Gefühl nicht verändert. Die Gewalten der Natur waren übermächtig und vom Menschen niemals zu beherrschen. Das hatte ihn sein Vater immer gelehrt.

      Luc ging zum Haupteingang und blieb vor der spiegelnden Scheibe der Eingangstür stehen. Ihm sah ein gutaussehender Mann entgegen. Ernst, ein wenig schnippisch. Der Bordeaux-Blick eben. Ein Mann in einem schwarzen Hemd, mit halblangen braunen Haaren, einem nicht ganz gepflegten Drei-Tage-Bart. Er war jemand völlig anderes geworden. Den schmächtigen Jungen, Sohn eines Austernzüchters, die Klamotten immer ein wenig zu groß und ein wenig zu zerschlissen, gab es nicht mehr. Und auch die alte Uniform, die er während seiner Anfangszeit bei der Polizei als kleiner Beamter tragen musste, war längst vergessen. Die Jahre in Paris hatten ihn gestählt. Er hatte, erst in den Banlieues und dann in der Innenstadt, ein ziemlich dickes Fell bekommen. Die letzten Monate waren hart gewesen: Nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Vincennes hatten er und seine Kollegen Sonderschichten gemacht. Nächtelange Observationen. Verhöre von Verdächtigen und Zeugen aus den Vororten. Der Stress war immens, der Druck von ganz oben enorm. Die Politiker brauchten Ermittlungserfolge – und die Polizisten mussten liefern. Ganz tief innendrin hatte sich Luc vielleicht sogar ein wenig gefreut, dass er es jetzt etwas ruhiger angehen könnte, hier draußen in der Provinz – auch wenn er das nie zugegeben hätte.

      Der Mann, den er in der Spiegelung kritisch musterte, gefiel ihm deutlich besser als der schüchterne Junge von damals. Es war alles gut. Er fühlte sich wohl. Er hatte etwas aus sich gemacht. Jetzt musste er nur die Zeit hier im Aquitaine durchstehen, und dann würde es schnell zurück nach Paris gehen. Dorthin, wo das Leben tobte, nicht der Sturm. Dort, wo seine Freunde waren, und – vor allem – seine Freundinnen. Derzeit war es nur eine, auch wenn er Delphine nicht als seine Freundin vorstellen würde. Sie würde es auch nicht verlangen. Das hoffte er zumindest.

      Luc trat durch die elektrische Schiebetür ins Commissariat. Die Gänge waren lang


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