Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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die Ursachen meines Gedächtnisverlustes untersuchen soll, aufs Korn und spotte: »Vielleicht war ja mein ganzes bisheriges Leben auch nur eine einzige posttraumatische Belastungsstörung?«

      Die linke Augenbraue meiner Therapeutin zuckt hoch und bildet einen schwarzen gotischen Bogen. Ihr Mund verzieht sich dabei säuerlich.

      »Der Ernst der Lage ist Ihnen aber schon bewusst, ja?! Oder möchten Sie mir etwas ganz Bestimmtes mitteilen?«

      Unter den gotischen Torbögen wohnen in tiefen Höhlen zwei Mausaugen. Sie scheinen nur aus Pupillen zu bestehen. Vorwurfsvoll blitzen mich die Mausaugen etwas fehlsichtig an.

      Na, so frech war das auch wieder nicht, räsonniere ich still. Unwillkürlich reagiere ich dabei mit einer fahrigen Geste.

      Sicher wertet sie das körpersprachlich wieder als Übersprunghandlung oder Abwehr. Na, meinetwegen!

      Frau Dr. Vogelsang kritzelt ziemlich verdrossen und heftig in ihren Unterlagen herum. Dann misst sie mich mit dem prüfenden Blick einer beauftragten Analytikerin. Patienten oder Probanden, die sich über sie und ihr ernstes Werk lustig machen, sind ihrer Meinung nach entweder Idioten oder Neuroten. Worunter ich falle, weiß sie noch nicht.

      Ich auch nicht.

      Vielleicht ist das auch keine Entweder-oder-Frage?

      Auf ein abgenutztes Clipboard mit abgeschabtem blauem Rücken notiert sie mit wütender Energie viel Text. Ich recke den Hals. Manisch lese ich verkehrt herum, immerhin mit einem Fragezeichen. Es springt mir in die Augen. Der Furor, mit dem sie sich auf dem Papier abarbeitet, hat eine Strähne aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst. Ihre Haartracht gleicht allmählich einem Frisierunfall.

      Ab wann ist »heiter« nicht bloß heiter, sondern manisch?, denke ich.

      Die freischwebende Locke dreht sich in Zeitlupe zu einer Sechs auf ihrer Stirn. Zu ihrem müden Gesicht bildet das einen komischen Diskant. Das lenkt mich ab.

      Wo habe ich dieses Motiv schon mal gesehen?, frage ich mich. Die Garbo in der Kameliendame!, fällt mir ein. In einer Game Show gäbe das jetzt glatt hundert Punkte!

      In meinem Bauch rollen bereits erste Lacher wie Glasmurmeln hin und her. Tatsächlich hat die Vogelsang mit der Garbo so viel gemein wie eine Kuh mit einer Nachtigall. Alles an ihr ist irgendwie schief. Den Mund verzieht sie beim Sprechen immer nach links. Als wollte sie dem Gesagten Nachdruck verleihen. Oder ist es ein Tick?

      Prompt fallen mir Dutzende Psychiaterwitze ein. Ich widerstehe.

      Die Nasenspitze von Frau Dr. Vogelsang driftet beim Sprechen ebenfalls sanft nach links. Das linke Auge ist kleiner als das rechte. Und nun noch diese Locke! Immer wieder muss ich auf diese haarige dunkelblonde Sechs starren.

      Damit keine Peinlichkeit entsteht, sehe ich lieber aus dem vergitterten Fenster. Drüben auf dem Dachfirst versammeln sich gerade wieder die Nebelkrähen. Seltsamerweise hocken sie immer auf dem Dach der Forensischen Abteilung. Mindestens zweihundert Vögel auf Abruf. Emsig putzen sie ihr schwarzgraues Gefieder. Mit flink von rechts nach links wippenden Köpfen halten sie hektisch Ausschau wie wachsame Kurzsichtige, denen ständig die Brille verrutscht. Hitchcock!, raunt mein zweites Ich.

      Der Himmel über dem Anstaltsdach mit der Vogelversammlung gleicht einem dunkel verschossenen Schmuddellaken. Wie nicht anders zu erwarten, meldet sich bei diesem Gedanken sofort mein chronischer Putzfimmel. Chlorbleiche, Wäscheweiß oder Zauberschwamm ist hier nicht die Frage, weise ich meinen Fimmel zurecht. Ich muss mich auf das Gespräch mit der Vogelsang konzentrieren. Da verbieten sich Fantasien zu blitzblank geputzten Himmeln, denn zugegeben: Ich sitze ziemlich in der Klemme.

      Halb forschend, halb erbittert mustert Dr. Vogelsang mich. Jetzt beugt sie sich erwartungsvoll vor. Irgendwas muss ich nun wohl sagen. Hilfsweise grinse ich in Richtung Fensterscheibe. Den Blick richte ich fest auf die Vögel und denke mir das Wort »Brot«, wie das Schauspieler tun, wenn sie bekümmert und ernst wirken sollen.

      Es klappt.

      Das Vorher in meinem Leben, um das sich Frau Dr. Vogelsang bei mir bemüht, ist mir ziemlich gleichgültig, was mich in Anbetracht der Lage selbst verwundert.

      Frau Dr. Vogelsang zuckt mit den Achseln. Unterdrückt einen Seufzer.

      Ihren Verdruss tarnt sie mit professioneller Langmut: »Na, gut! Dann erzählen Sie mir einfach, woran Sie sich erinnern.« Der linke Mundwinkel führt dabei schon wieder ein seltsames Eigenleben. Verstohlen blickt sie auf die Armbanduhr, die Therapeuten einer geheimen Regel zufolge immer am Anfang einer Sitzung vom Handgelenk abnehmen und demonstrativ vor sich hinlegen. In Ermangelung eines Tisches klemmt Frau Dr. Vogelsang ihre Uhr hier an das Clipboard, als wollte sie mir sagen, ihre Zeit sei bemessen und kostbar. Ich solle davon sparsamen Gebrauch machen.

      »Ich schlage vor, wir arbeiten uns, möglichst ohne Witze zu machen, zum traumatischen Ereignis vor«, beginnt sie gedehnt. »Dorthin, wo Ihre Erinnerung aussetzt, um Ihre Seele zu schützen. Ich sage noch einmal: Sie haben nichts zu befürchten!«

      Nichts zu befürchten?!, echot es höhnisch durch meinen Kopf. Dabei fühlt sich mein Schädel an, als sei er mit rosa Zuckerwatte vollgestopft.

      Meine mir zugeteilte Doktora atmet jetzt tief durch. »Wollen Sie mir bitte Ihren Satz, dass Ihr ganzes Leben eine einzige posttraumatische Belastungsstörung sei, näher erklären, oder beginnen wir lieber mit Ihrem Satz von gestern: ›Wenn wir fallen, dann fallen wir tief!‹ Wer ist dabei ›wir‹, und wer genau fällt denn da eigentlich?«

      Über die Einzelheiten meines sogenannten posttraumatischen Lebens zu plaudern ist mir zu heikel. Das hieße, davon zu sprechen, dass ich schon bei meiner Geburt nur knapp dem Tod entging. Nabelschnurvorfall. Die Nabelschnur hatte sich siebenmal um meinen Hals gewickelt. Stranguliert im Mutterleib. Winter 1947 war das. Hausgeburt in einer kaum heizbaren Wohnlaube im Berliner Norden. Und kein Arzt weit und breit. Ohne Kaiserschnitt: entweder sie oder ich. Das Leben der Mutter geht vor. Nur bei den Katholiken soll es anders herum sein. Angeblich wegen der Unschuld des Ungeborenen, hat meine Mutter gesagt. Die Hebamme hatte sich zu meinem Exitus bereits Mut angetrunken. Mit selbstgebranntem Schnaps aus der braunen Medizinflasche mit dem Etikett 96 % med. Alkohol. Sie gab mir noch eine allerletzte Chance. Wenn nicht, dann … Den geschickten Fingern dieser Frau, die mir die strangulierende Nabelschnur schließlich siebenmal über den Kopf ziehen konnte, verdanke ich mein Leben. Dabei kenne ich noch nicht einmal ihren Namen! Mit einem blauen, deformierten Kopf bin ich »dem Tod von der Schippe gesprungen«, erzählte meine Mutter später immer triumphierend. Dass sie in Folge jedoch annahm, dass ich nur zu einer Idiotin taugen würde, ließ sie unerwähnt. »Und die Welt begrüßte mich als Erstes mit einer Schnapsfahne!«, ergänzte ich dann immer munter das Heldenepos meiner dramatischen Geburt.

      Denn wir verachten den Tod. Wir lachen ihm ins Gesicht. Schon aus Prinzip! Wir glauben den Tränen nicht.

      Deshalb sind Leid und Drama bei uns grundsätzlich komisch. Dazu passte, dass ich bei meiner Geburt gleich zwei Väter und kurz nacheinander drei verschiedene Familiennamen und drei Geburtsurkunden hatte. Erst den Namen des gefallenen Ehemannes meiner Mutter, dann den Mädchennamen meiner Mutter und etwas später den Namen meines richtigen Vaters, der übrigens ziemlich zeitgleich mit mir »dem Tod von der Schippe gesprungen« sein musste, denn an meinem Geburtstag lag er im Sterbezimmer einer Potsdamer Klinik. Motorradunfall bei Glatteis auf der Autobahn. Dem Tod zu entkommen, darin hatte mein Vater sehr viel Übung. Ich bereits nach einem Tag Leben.

      Das alles erzähle ich der Vogelsang nicht. Ich traue ihr nicht. Am Ende ist sie eine falsche Therapeutin und arbeitet für die Staatsanwaltschaft. Vielleicht ist sie gar eine bestellte Gutachterin? Wenn man auf der geschlossenen Station der Psychiatrie liegt, ist man dann eigentlich schon halb im Gefängnis, quasi in medizinischer Untersuchungshaft? Ich entschließe, so ohne weiteres nichts von mir preiszugeben.

      Gar nichts!

      In meiner Familie hat man gelernt, mit Finesse zu schweigen.

      Am besten fange ich mit etwas Unverfänglichem an: mit wortreichem Schweigen oder mit der Genealogie der Ereignisse, die bis hierher führten …


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