Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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      Zur Mittagszeit des 10. März 1902 ahnte niemand, dass der Untergang der Familie Kohanim von nun an seinen Lauf nehmen sollte. Kein leiser Knacks, kein haarfeiner Riss, kein eiskalter Hauch. Weder plötzliche Stille noch ein Schwarm auffliegender Raben oder eine auf Punkt zwölf stehengebliebene Uhr; keine schwarze Katze von links nach rechts, kein Bild, das von der Wand fiel, kein zersprungenes Glas, noch nicht einmal eine Verwünschung wurde laut. Auch kein bedeutungsvoller schwarzer, mit Lineal gezogener Strich wie bei den Buddenbrooks. Nichts dergleichen, das Vorahnungen beschwören könnte. Nur eine schwindsüchtige Sonne stand am Himmel und kämpfte darum, die Eiszapfen zum Weinen zu bringen. Das war alles.

      Dieser 10. März schien lediglich einer der üblichen Unglückstage der Familie zu werden, so unvermeidlich wie zahlreich im Leben einer besseren jüdischen Familie im ländlichen Westpreußen im 19. Jahrhundert.

      Mit Fassung sah man wiederum einem durchschnittlichen Unglück entgegen. So etwas gab es zur Genüge auf Sauermühle nahe der Kreisstadt Schwetz. Das einzig Ungewöhnliche an diesem Unglückstag war, dass im Haus ein jiddisches Schlaflied erklang.

       Amol is gewen a Majese

       Die Majse is gor nit frejlach,

       die Majsse hebt sich on

       mit a jidischen Mejslach.

       Ljulinke, mejn Vejgele,

       Ljulinke, mejn Kind!

       Ich hob verlorn a sa Liebe,

       wej is mir und wünd.

       Der Bojm hot gehobt a Zwejg,

       der Zwejg hot gehobt a Nestele,

       dos Nestele hot gehobt a Vejgele,

       dos Vejgele hot gehobt a Fliegele.

       Ljulinke, mejn Vejgele, Ljulinke, mejn Kind!

       Der Mejslach is gestorbn,

       die Malke is geworen vardorbn,

       der Bojm is opgebrochen,

       dos Vejgele is awakgeflogn.

       Ljulinke, mejn Vejgele,

       Ljulinke, mejn Kind!

       Er hot verlorn a sa Leben,

       wej is mir und wünd.

      Für nichtjüdische Ohren klang das für ein Wiegenlied schon befremdlich genug. Zu einer schwermütigen Melodie klagte im Lied eine Mäusemutter, dass ihr alle Mäusekinder der Reihe nach wegstürben, dazu noch der Baum, das Nest und die Vögel. Tod, Tod, Tod, überall Tod! Wollte man so etwa ein Kind in den Schlaf lullen? Was christliche Ohren da an Trauer verstörte, klang für jüdische eher normal. In früheren Zeiten war man schließlich nicht zimperlich. Man dachte praktisch. Ließ sich das Unglück nicht mit Gesang und Gebeten bannen, dann wollten die Altvorderen jüdische Kinder bereits in der Wiege auf ein entbehrungsreiches Leben einstimmen. Je früher, desto besser! Auch wenn man wohlhabend war, oder vielleicht gerade deshalb. Zur Mahnung, dass das Schicksal sich immer wenden könnte und jeder gefordert war, immer und zu jeder Zeit die Wechselfälle des Lebens von Grund auf neu zu meistern. Doch solche Existenzängste kannte die Familie schon lange nicht mehr. Die Kohanim waren seit Generationen recht begütert und geradezu messianisch vom Glauben an den Fortschritt besessen. In der Gemeinde und im Landkreis von Schwetz galt mein Urgroßvater, Samuel Kohanim, als liberaler Querkopf. Er war ein Modernist, der die neuesten Maschinen und Methoden immer als Erster einführen wollte. Der Umsturz alles Althergebrachten, Rückständigen und Überlebten war seine Passion. Meine Urgroßmutter nannte das den »Kohanim’schen Flitz«. An die zwölf technische und naturwissenschaftliche Zeitschriften studierte mein Urgroßvater regelmäßig. Außerdem war er weit und breit der einzige liberale Republikaner und Freigeist unter lauter Monarchisten und kaisertreuen Untertanen. Für die innerfamiliäre Gemütslage bedeutete das, dass man fast alle mittelalterlichen jüdischen Traditionen rigoros verachtete. Jiddisches war den Kohanim sogar so peinlich, dass sie so taten, als verstünden sie es nicht. So war es Familienbrauch, sobald jemand Jiddisch sprach, die Augenbrauen unwillig zusammenzuziehen und sich theatralisch verständnislos zu gebärden. Dieses jiddische Lied war im Hause Kohanim deshalb im doppelten Sinne unerhört. Mindel Kohanim, meine Urgroßmutter, die meinem Urgroßvater Samuel an Eigensinn nicht nachstand, missbilligte die jüdischen Traditionen nur halbherzig und gestattete sich an diesem 10. März ausnahmsweise einen Rückfall »ins Vorsintflutliche«. Aus gegebenem Anlass.

      War Mindel nicht genauso eine unglückliche Mutter wie die Mäusemutter im uralten jiddischen Wiegenlied? Ihre sieben Töchter, also meine sechs Großtanten und meine halbkindliche Großmutter, waren des unverhofften vielstrophigen trübsinnigen Singsangs schnell überdrüssig. Sie verstanden den Text ja noch nicht einmal. Außer »Wej, wej, wej«, was man nicht übersetzen musste. Ungeduldig hofften sie auf einen Übergang zu geläufigeren Weisen. Lieder, in denen von Sternlein und Schäfchen die Rede wäre. In ihren Fibeln waren solche Lieder immer putzig bebildert. Mit verdrehten Augen flatterten da nackte Putten herum, die durchweg fett, ziemlich flugunfähig und dämlich aussahen.

      Selbst »Bruder Jakob« wäre meiner halbkindlichen Großmutter und den schon jugendlichen Großtanten recht gewesen. Nur eines stand für alle sieben Schwestern fest: Dem Bruder hier in der Wiege könnten die Sternlein stehen, wo der Deibel Fliegen fängt!

      Außer schwesterlicher Missgunst lag sonst nur Kampfer und Jammer in der Luft. Drum herum viel Langeweile.

      Die verpönten Töne des Liedes drangen längst nicht mehr in die Herzen dieser jüdischen Mädchen. Unentschlossen blieben daher die obdachlosen ein- oder zweigestrichenen As, Ds und Hs ratlos in der mittleren Luftschicht der überheizten Stube hängen. Nur die Fransen an der Lampe ließen sie zittern. Vor Schwermut triefend, sanken die Töne langsam zu Boden und tropften zwischen den Dielen weg wie die Tränen der Sängerin.

      Nur Mindels Jüngster, dem das missliebige Wiegenlied galt, hörte es als Einziger nicht. Tief vergraben lag das Kind, das mein einzig übriggebliebener Großonkel in spe werden sollte, in seiner weißen Kissengruft. Darüber wucherten Spitzen wie Spinnweben auf Dachböden. Abwechselnd rang das Kind mal mit dem Leben, mal mit dem Tod. Seufzte der kleine Benjamin auf, dann hatte gerade mal wieder das Leben triumphiert. Japste oder röchelte er, dann schien gerade wieder der Tod die Oberhand zu gewinnen. Drei Tage und Nächte ging das nun schon so.

      Der kleine Benjamin sollte der Kronprinz der Familie werden. Doch nun, nach zwanzig Monaten, machte auch dieser Kronprinz schlapp. Genau wie die fünf Kronprinzen vor ihm.

      Da half kein Wiegenlied, kein Arzt, auch nicht der Wunderrabbi von Sadagora, den meine Urgroßmutter im Tausch gegen ihre Perlen heimlich ins Haus geholt hatte. Die Perlen, die sie seither an Festtagen trug, waren falsch. Echt blieben nur die Tränen.

      Inzwischen schwankte die Wiege aus geschnitztem Nussbaum wie ein Kahn auf schwerer See. Gefährlich nah neben der Wiege ragte ein kolossaler grüner Kachelofen auf. Eine Handbreit unter der Zimmerdecke war dieses Bollwerk gegen sibirische Kälte mit grünen Kachelzinnen wie eine Burg bekrönt. Das Schaukeln der Wiege verursachte auf den weiß gescheuerten Dielen ein sandiges Mahlgeräusch. Zusammen mit dem behäbigen Ticken der Standuhr verband es sich zu einem Duett von Vergänglichkeit, vorausgesetzt, man hatte einen Sinn für Höheres. Die großen Schwestern des siechen Kronprinzen waren dafür jedenfalls nicht empfänglich.

      Elli dachte ans letzte Eislaufen der Saison, das sie nun verpasste. Flora deklamierte stumm alle dreiundzwanzig Strophen der »Kraniche des Ibykus«. Martha sinnierte darüber, ob sich die Liebenden in ihrem Schmöker kriegen. Fanny dachte an die Hausarbeit, die jetzt liegen blieb. Jenny hatte Hunger und grämte sich über das verspätete Mittagessen, das inzwischen in der Bratröhre verschmorte. Franziska grübelte, wem sie das verhasste Spleißen der Gänsefedern aufhalsen konnte. Selma, meine jugendliche Großtante mit religiösem Spleen, ging im Geiste


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