Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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Mit anderen Worten: Mindel Kohanim, geborene Beinesch, die Nachfahrin des polnischen Eintagskönigs, war exzessiv verschroben, überwiegend geistesabwesend und auf eine böse Art gut.

      Damit man sie möglichst in Frieden ließ, zeigte sie allen ein hochmütig-hartes, abweisendes Gesicht. Haus und Hof regierte sie fast ausschließlich mit ihren kalten kieselgrauen Blicken. Dabei schien sie über ein unerschöpfliches Repertoire von stummen Fragen, Befehlen, Verurteilungen und Verwünschungen zu verfügen. Nicht bloß zu Neumond, wenn alle besseren jüdischen Frauen ohnehin den ganzen Tag schwiegen, bekam Mindel den Mund nicht auf. Es konnte durchaus auch vorkommen, dass sie geschlagene zwei Wochen nicht sprach. Mit niemandem.

      So grimmig wie im Hause Kohanim Leben und Tod gegeneinander kämpften, rangen draußen nicht weniger erbittert Winter und Frühling miteinander.

      Vor dem zugenagelten Fenster lag die bügelbrettflache weite Ebene der Tucheler Heide. Dort, wo die Sonne den weißen Wintermantel aus Schnee weggeschmolzen hatte, sah die Heide aus wie eine schmutzige Nackte, die sich in faulende Lumpen gehüllt hatte. Die Forstwälder des Bischofs von Kujawien und die gräflichen Wälder der Grafen Solkowsky erstreckten sich schwärzlich kahl mit ihren wie Aussatz schimmernden fahlen Birkenstämmen bis zum Horizont. Ein Land, so weit wie das Meer, mit einem ebenso ozeanischen Himmel darüber. Die trostlose Weite führte dem Menschen seine Nichtigkeit vor Augen und verbreitete lähmende Mutlosigkeit. Selbst bei strahlendem Sonnenschein und Amselschlag überfiel auch das heiterste Gemüt sofort Schwermut, sofern man nicht umgehend mit einem Wasserglas Hochprozentigem dagegen anging. Besonders im März.

      Am Nachmittag wich mit einem Zirpen das letzte Leben aus meinem kleinen Großonkel in spe. Mindel wischte sich die Augen. Steinalt und sterbensmüde fühlte sie sich. Ächzend verhängte sie alle Spiegel mit schwarzem Tuch. In ausgetretenen Kamelhaarlatschen schlurfte sie mit gekrümmtem Rücken durchs Haus, schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge zu. Nach jüdischer Tradition riss sie die rechten Rocksäume und Kragen der Mädchen ein, sich selbst als Mutter die linken, zerzauste sich und den Mädchen die Haare und entzündete rechts und links der Wiege Kerzen für die Zeit des Schiwe-Sitzens, der jüdischen Trauerzeremonie. Zu guter Letzt hielt sie feierlich das Pendel der Standuhr an. Ein paar Tage lang sollte die Zeit stillstehen, oder fast.

      Zum ersten Mal regte sich auch bei den sieben Mädchen so etwas wie ein Gefühl. Der Anblick der düsteren Szenerie mit den trüb funzelnden Kerzen neben der nun schwarz verhängten Wiege war ihnen unheimlich. Jeden Moment waren die sieben darauf gefasst, dass die unglückliche Seele ihres Bruders als Gespenst von irgendwo hervorhuschen würde: »… wenn er Charakter hat!«

      Zu ihrer Enttäuschung spukte er nicht einmal herum. »So ein Schmock!«

      Für ein Kleinkind unter zwei Jahren sollten ein Tag und eine Nacht anstatt der für Erwachsene vorgeschriebenen sieben Tage und Nächte Trauer reichen. Das hatten die Juden der Gegend vor Urzeiten so beschlossen. Schließlich starben Kinder jeden Tag weg wie die Fliegen. Die jüdischen Kinder raffte der Tod wegen des schlechten Wassers ihrer Brunnen sogar noch häufiger dahin als die christlichen. Und wo käme man hin, wenn man für jedes Würmchen, das wegstürbe, eine ganze Woche vertue und die Lebenden um der Toten willen hungern ließe?

      Wie befohlen sprachen die sieben hinterbliebenen Schwestern leiernd die Gebete. Nur Flora tat so, als trauerte sie aus tiefster Seele, heulte theatralisch auf und riss sich an Haaren und Kleidern.

      »Die schiebt Phiole! Das falsche Aas.«

      Wie ein Schwarm verfrorener Nebelkrähen hockten die Frauen der Beerdigungsgesellschaft in dunkle Wolltücher gehüllt. Auf Baumstämmen ritten sie auf der letzten Holzfuhre, die den buckligen Weg über das Flüsschen Schwarzwasser zum Kohanim’schen Anwesen nahm.

      Im blaustichigen Licht des sinkenden Winternachmittags hätte man sie auch für ein Hexenbataillon auf Ausritt halten können. Zur Abwechslung einmal nicht auf Hexenbesen, sondern auf dicken Kiefern- und Fichtenstämmen. Nachdem sich das Trauergeschwader die Kälte aus den schwärzlichen Tüchern und Lumpen und den klammen Gliedern geschlagen hatte, flatterte es geschäftig durchs Haus und verbreitete einen Geruch von altem Achselschweiß und Fichtenharz. Entweder aus Versehen oder aufgrund der Gewohnheit der neuen Mehrheitsverhältnisse im jüdischen Teil der westpreußischen Kreisstadt Schwetz oder auch nur von irgendwoher gekommen, um zu schnorren, waren vier berufsmäßige Klageweiber »der Sekte«, der Chassiden, mit von der Partie. Angeblich verstanden sie außer Jiddisch nur Persisch.

      Einen Moment lang schüchterte sie der satte bürgerliche Glanz des Trauerhauses ein. Scheu hielten sie inne und beäugten neugierig das Interieur. Doch gleich darauf besannen sie sich ihrer Bestimmung und legten sich im Trauerzimmer mit professionellem Eifer ins Zeug. Mit von Asche beschmierten Gesichtern und zerzaustem Haar stimmten sie ihr wüstes Klagegeschrei an, warfen die Arme in die Luft, rauften sich die Haare, klopften sich klagend an die Brust und rissen sich an den Kleidern. Die kaschubischen Dienstboten der Kohanim bekreuzigten sich unablässig. Mit abergläubischem Schaudern, mit gefalteten Händen stumm betend schauten sie dann zu, wie die Frauen der Beerdigungsgesellschaft, der Chewra Kadischa, den mageren gelben Körper des Kindes mit koscherem Wasser wuschen. Es ähnelte einem aus dem Nest gefallenen nackten gelben Vogelküken. Nach der Waschung hüllten die Frauen der Beerdigungsgesellschaft das Kind in das kleine weiße Leinentuch. Zwischen die Händchen legten sie dem kleinen Leichnam ein Beutelchen mit Erde vom Ölberg aus Jerusalem.

      Wenn der Messias dereinst käme und seinen Namen aufriefe, würde er so seine Auferstehung nicht verpassen.

      Von Klageweibern hatten die sieben Mädchen bislang nur vage gehört und meist nur mit Schaudern. Anders als den sonst überall herumstromernden Kindern der anderen Familien war den Töchtern des fortschrittsgläubigsten Juden des Landkreises der Aufenthalt im Schtetl streng verboten. Bei Strafe sollten sie sich im litwakischen oder chassidischen Teil von Schwetz ja nicht blicken lassen. Das jüdische Viertel lag direkt unten am Ufer der Weichsel und wurde jedes Frühjahr überschwemmt. Tagelang konnte man sich nur von Haus zu Haus auf Kähnen treiben lassen, wenn man sich besuchen oder den Markt erreichen wollte. Dort, in der für die Kohanim-Töchter verbotenen Stadt von Schwetz, regierte Rabbi Menachem Streisand, der »angeborene Feind« des Kohanim. Es war auch das Reich der Ratten, Flöhe, Läuse, Wanzen, der Krätze. Selbst die Cholera und die Ruhr verkehrten hier ab und zu. Von den einheimischen Pocken, dem Typhus, der Diphterie, der Kinderlähmung und der gerade epidemisch um sich greifenden Schwindsucht ganz zu schweigen. »Außer für mildtätige Besuche ist das kein Ort für uns!«, mahnte meine Urgroßmutter. »Schon aus Gründen der Hygiene!«

      Zur Bekräftigung erinnerte sie refrainartig an die letzte Cholera-Epidemie, die im Schtetl von Schwetz ihren Anfang nahm. Die Gefahr war begründet. Regelmäßig, wenn im Frühjahr die Überschwemmungen nachließen, faulte auch das Wasser in den koscheren Brunnen der zugezogenen Juden aus Russland und Galizien, so dass alle Chassiden an Furunkeln und Geschwüren litten. Zu ihrer absonderlichen Kluft und Haartracht waren sie zusätzlich mit eitrigen Beulen an Haupt und Gliedern gezeichnet und sahen zum Fürchten oder Erbarmen aus.

      Es lag auf der Hand, dass die alteingesessenen Juden, die Krawatten-Juden, die Deutsch sprachen, sich rasierten und nach Eau de Cologne dufteten, mit den finsteren, schmuddeligen, nach Knoblauch, Schmutz und Armut stinkenden jiddelnden Kaftan-Juden vom Weichselufer nicht das Geringste zu tun haben wollten. Man mied sie wie Aussätzige. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Die hochgelehrten Litwaken, die sich für die einzig wahren Orthodoxen hielten, als auch die eher primitiven, spirituell-schwärmerischen Chassiden betrachteten die assimilierten deutschsprachigen Glaubensbrüder als Apikores, als abtrünnige Juden, die ihnen sogar noch verächtlicher schienen als reine Gojim.

      Meine halbkindliche Großmutter und ihre sechs Schwestern begrüßten dieses unverhoffte exotische Spektakel indes mit Begeisterung. Endlich kam etwas Würze in den faden Tag! Endlich konnte man diese seltsamen Wesen einmal aus der Nähe betrachten. Atemlos, mit offenen Mündern verfolgten sie das Treiben der Klageweiber, als sähen sie Akrobatinnen im Zirkus zu. Besonderes Interesse weckte dabei eines der Klageweiber, das noch bizarrer als die anderen lamentierte. Unter dem Kopftuch der Frau zeigten sich zudem lange blonde Zöpfe! Rothaarige gab es unter den Chassiden aus Vorderasien ja viele, aber Blondinen? Die Mädchen bekamen kreisrunde Augen.


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