Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung - Ingo Reich


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      Ingo Reich / Augustin Speyer

      Deutsche Sprachwissenschaft

      Eine Einführung

      Reclam

      

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961715-2

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011276-2

       www.reclam.de

      [7]1 Deutsche Sprachwissenschaft: Einführendes

      1.1 Sprachwissenschaft als Teil der Germanistik

      Wenn Sie sich für dieses Buch interessieren, ist die Annahme nicht ganz unbegründet, dass Sie entweder bereits Germanistik studieren oder sich zumindest mit dem Gedanken tragen, sich für dieses Fach zu entscheiden. Und als angehende Germanist*innen werden Sie auch inzwischen festgestellt haben, dass sich die Germanistik als Fach nicht alleine mit deutschsprachiger Literatur beschäftigt, sondern auch mit der deutschen Sprache. Da beide Gegenstände auch in ihrer historischen Dimension untersucht werden, gliedert sich die Germanistik in der Regel in drei Teilgebiete der GermanistikAbteilungen: die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, die Neuere deutsche Sprachwissenschaft (auch Germanistische Linguistik genannt) und die Ältere Abteilung (auch mediävistische Abteilung genannt), die sich sowohl mit der älteren Literatur als auch mit der älteren Sprache beschäftigt (vgl. Abbildung 1.1).

      Abb. 1.1: Teilbereiche der Germanistik

      Der Gegenstand der Germanistischen Gegenstand der Germanistischen LinguistikLinguistik ist die deutsche Gegenwartssprache in all ihren Dimensionen. Damit grenzt sie sich deutlich von anderen Philologien wie der Anglistik, der Romanistik oder der Slawistik ab, die sich mit dem Englischen, den romanischen bzw. den slawischen Sprachen und Literaturen beschäftigen. Nicht wenige Berührungspunkte hat die Germanistische Linguistik mit der stärker theoretisch ausgerichteten Allgemeinen Linguistik bis hin zur Computerlinguistik, in der es primär um die automatische Verarbeitung großer Mengen sprachlicher Daten geht. Diese Fächer können aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer Einzelsprache nicht ersetzen, und genau darin besteht der Reiz der Germanistischen Linguistik.

      [8]1.2 Teilgebiete der (Germanistischen) Linguistik

      Nähern wir uns also unserem Gegenstand an. Wir haben gerade formuliert, dass dies die deutsche Sprache in all ihren Dimensionen ist. Damit stellt sich sofort die Frage: Was genau sind diese Dimensionen? Um die Gliederung der (Germanistischen) Linguistik in ihre Teilgebiete nachvollziehen zu können, sollte man sich zunächst bewusst machen, was Sprache eigentlich ausmacht. Sprache dient offenbar der Kommunikation. Wir wünschen uns einen guten Morgen, indem wir »Guten Morgen!« sagen, wir bestellen uns mit den Worten »Ich hätte gerne einen Cappuccino« einen Cappuccino und wir entnehmen der Schlagzeile »Frankreich ist Weltmeister« auf z. B. Zeit Online (15. 7. 2018), dass Frankreich Weltmeister ist. Form und Inhalt sprachlicher AusdrückeSprache hat also zunächst eine inhaltliche Seite: Mit »Ich hätte gerne einen Cappuccino« bestelle ich eben einen Cappuccino und keinen Apfelsaft, ganz einfach weil ich mich mit dem Wort Cappuccino auf Cappuccino beziehe und nicht auf Apfelsaft. Die sprachlichen Äußerungen haben dabei aber immer auch eine bestimmte Form oder Struktur. Ich kann nicht sagen: »Frankreich bist Weltmeister«. Diese Äußerung würden wir als nicht akzeptabel, als ungrammatisch bezeichnen, auch wenn wir die damit verbundene Aussage vielleicht verstehen. Das Problem ist, sprachwissenschaftlich gesprochen, dass der Eigenname Frankreich in der dritten Person steht, die Kopula bist aber in der zweiten Person. »Frankreich, du bist Weltmeister« wäre dagegen wieder akzeptabel. Sprachwissenschaftler stehen also vor mindestens zwei Herausforderungen: Sie müssen zum einen die Struktur, den Aufbau sprachlicher Ausdrücke beschreiben, also die Regeln, nach denen diese Ausdrücke gebildet werden. Zum anderen müssen sie den inhaltlichen Bezug, also die Bedeutung dieser Ausdrücke beschreiben. Und am Ende wird man auch erklären wollen, wie die Ausdrücke zu ihrer Bedeutung kommen. Für ein Wort wie Cappuccino ist das vielleicht noch recht naheliegend: Wir haben einfach gelernt, dass wir uns mit dem (eigentlich italienischen) Wort Cappuccino auf Cappuccino beziehen. Nicht ganz so einfach zu erklären ist aber, was die Bedeutung des Satzes ich hätte gerne einen Cappuccino ist und wie diese Bedeutung auf der Basis der einzelnen Wörter zustande kommt.

      Was die Struktur sprachlicher Ausdrücke betrifft, werden in der Linguistik im Wesentlichen drei Ebenen unterschieden: die Struktur von Sätzen, die Struktur von komplexen Wörtern und der lautliche Aufbau sprachlicher Ausdrücke. Mit der Struktur von Kerngebiete der (Germanistischen) LinguistikSätzen beschäftigt sich die SyntaxSyntax, mit der Struktur von komplexen Wörtern die MorphologieMorphologie und mit dem lautlichen Aufbau die PhonetikPhonetik und die PhonologiePhonologie. (Was genau der Unterschied ist zwischen Phonetik und Phonologie, darauf werden wir in Kapitel 9 noch zu [9]sprechen kommen.) Fragen des inhaltlichen Bezugs, der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, sind schließlich Gegenstand der SemantikSemantik. Untersucht man die Bedeutung von Wörtern, dann spricht man von der lexikalischen Semantik. Wird die Bedeutung komplexerer Ausdrücke untersucht, spricht man von Satzsemantik.

      Abb. 1.2: Kerngebiete der (Germanistischen) Linguistik

      DieGrammatikKompetenz genannten Bereiche der Linguistik werden in dem Sinne als Kerngebiete bezeichnet, als sie das Grammatik und Kompetenzgrundlegende grammatische System einer Sprache beschreiben, das die Basis unserer sprachlichen Kompetenz darstellt. Mit ›grammatisches System‹ ist hier aber keine präskriptive Grammatik gemeint, also eine Grammatik, die wir aus dem Regal nehmen können und in der steht, was ›richtiges‹ Deutsch ist. Was wir hier meinen, ist das System, das wir als Kinder gewissermaßen nebenbei erwerben und das in unserem Gehirn in irgendeiner Form als eine mentale Grammatik repräsentiert sein muss. Da wir zu diesem System leider keinen direkten Zugang haben, muss das Ziel sprachwissenschaftlicher Forschung sein, dieses System auf der Grundlage sprachlicher Äußerungen zu rekonstruieren, zu beschreiben und letztlich zu modellieren.

      Eine GebrauchFunktionweit verbreitete Vorstellung ist dabei, dass diese mentale Grammatik in einer konkreten Situation den Gedanken eines Sprechers gewissermaßen ›in Worte kleidet‹, also einen sprachlichen Ausdruck generiert (erzeugt), der den Gedanken des Sprechers möglichst präzise wiedergibt. Von diesem sprachlichen Ausdruck selbst ist dann zu unterscheiden, wie der Sprecher diesen Ausdruck in der konkreten Situation verwendet, welche Funktion der Ausdruck in der konkreten Situation hat. So werde ich in der Regel mit der Äußerung »Guten Morgen!« jemanden morgens begrüßen. Wenn ich aber »Guten Morgen!« zu meinen Studierenden sage, denen gerade in meiner Vorlesung die Augen zugefallen sind (was natürlich ein rein hypothetischer Fall ist), dann hat diese Äußerung sicherlich eine ganz andere Funktion (und wäre auch zum Beispiel an einem Nachmittag angemessen). Mit Fragen des Gebrauch und FunktionGebrauchs [10]und der Funktion von sprachlichen Ausdrücken beschäftigt sich die PragmatikPragmatik und bis zu einem gewissen Grad auch die TextlinguistikTextlinguistik. Die Pragmatik fällt im Allgemeinen auch unter die Kerngebiete der Linguistik, ist aber nicht Teil des grammatischen


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