Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand. A. S. Dowidat

Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand - A. S. Dowidat


Скачать книгу

      1.

      Ulrich ahnte, dass es so ausgehen würde wie immer: Wieder würde er sich den äußeren Verhältnissen fügen. Mit hängenden Schultern saß er vor dem Schreibtisch des Arbeitsvermittlers und beobachtete eine kleine Fliege, die auf dem Rand des Computermonitors herumlief. Dann hob sie ab, schwirrte noch einen Moment im Zimmer umher und entschwand durch das gekippte Fenster in die Freiheit.

      Eben hatte der Arbeitsvermittler Ulrich freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass er nach der Kündigung viel früher und nicht erst nach Monaten der Untätigkeit zum Amt hätte kommen müssen, nun würde sein Arbeitslosengeld gekürzt werden. Ulrich protestierte nicht, sondern nickte nur stumm, als sei er mit allem einverstanden, was das Amt mit ihm vorhaben könnte. Der Mitarbeiter des Amtes fragte Ulrich, in welchem Bereich er eine neue Stelle suche. Ulrich traute sich nicht zu sagen, dass er sich eigentlich gar keine Stelle, sondern nach dem Tod seiner Eltern endlich ein ganz neues Leben wünschte, daher antwortete er nur, dass er da ganz offen sei.

      Damit hatte er offenbar das Richtige gesagt, der Arbeitsvermittler schien erleichtert, dass sein Gegenüber keine großen Ansprüche stellte. Kurz blickte er auf seinen Computerbildschirm und teilte Ulrich dann mit, dass er im kaufmännischen Bereich auch mit Mitte vierzig noch gut vermittelbar sei.

      Ulrich wollte alles andere als irgendwohin vermittelt werden, doch seine Situation schien ihm wie so oft unabänderlich. Da er nicht einmal genau wusste, wie ein neues Leben aussehen könnte, noch sich in der Lage zu tatkräftigen Entscheidungen sah, erklärte er sich stets mit allem einverstanden, was von ihm gefordert wurde. Als der Arbeitsvermittler Ulrich die Vereinbarung aushändigte, die seine Verpflichtung zur Stellensuche enthielt, unterschrieb er sie, ohne zu zögern.

      Rasch nahm er seinen Rucksack und verließ das Amt; erst, als er an der frischen Luft war, fühlte Ulrich sich kurzzeitig wie ein Entkommener. Er blickte umher, doch die Fliege war nirgends zu entdecken. Nichts zog ihn in seine leere Wohnung zurück, in der niemand auf ihn wartete und in der ihn sofort das Gefühl überfallen würde, seinen Verpflichtungen dem Amt gegenüber nachkommen zu müssen.

      So lief Ulrich durch die Straßen zur nächsten Bushaltestelle, um den Weg einzuschlagen, der ihm momentan als einziger Ausweg aus seiner Lage erschien: Nur noch im Möbelhaus konnte er seiner trostlosen Stimmung entgehen. Dort würde er in eine Welt voller geordneter Zuversicht und Glücksversprechen eintauchen und sich seinen Beobachtungen überlassen. Im Strom der anderen Besucher fühlte er sich seinen inneren Unverständlichkeiten weniger ausgeliefert, vielmehr konnte er im Möbelhaus an einer allgemeinen Stimmung von Aufbruchsbereitschaft und Lebenstüchtigkeit teilhaben.

      Als er an einem Kind vorbeiging, das ihn mit großen Augen ansah, als wüsste es um seine inneren Verhältnisse, erinnerte sich Ulrich plötzlich wieder an den Traum, den er in der Nacht gehabt hatte. Er hatte vor der Warenausgabe des Möbelhauses gesessen und nach draußen geblickt.

      In der Ferne hatte er das hoch aufragende blau-gelbe Firmenschild gesehen, das sein Licht in die Nacht hinausstrahlte. Der große Parkplatz vor dem Möbelhaus war bis auf ein einzelnes Auto in der Nähe des Eingangs leer gewesen.

      Im Halbdunkel des Bistros hatte er gemeint, einzelne Schemen zu erkennen. Manche hatten an einem der Tische gestanden, andere waren im Bistro umhergegangen, als suchten sie nach einem freien Tisch oder nach etwas anderem. An einem der Tische hatte er einen kleinen Jungen entdeckt, der zu der Frau und dem Mann neben sich hinaufblickte. Der Junge reichte kaum an die Tischkante heran, und vergeblich hatte er sich bemüht, die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erregen.

      Lange hatte er zu dem Jungen hingesehen. Er hatte aufstehen und zu ihm gehen wollen, sich jedoch nicht bewegen können. Neben sich fand er eine Taschenlampe; mit dem Lichtstrahl hatte er den Jungen, den Mann und die Frau umkreist. Endlich konnte er aufstehen, doch da war der Junge verschwunden, und auch sonst war niemand mehr zu erkennen gewesen.

      Er war aufgestanden und hatte das leere Bistro durchquert, dann war er an den Kassen vorbei in die Selbstbedienungshalle des Möbelhauses gegangen, wo die Regale wie stumme Riesen in die Dunkelheit ragten. Der Lichtkegel der Taschenlampe lief vor ihm auf dem Boden.

      Plötzlich hatte er weit hinten in der Halle ein zweites Licht gesehen. War dort noch jemand gewesen? Immer stärker hatte er das Gefühl gehabt, unbedingt dorthin gelangen zu müssen, wo er das Licht sah. Er war innerlich aufgewühlt und voller Freude gewesen. Doch als er weiter in die Selbstbedienungshalle gegangen war, war er aufgewacht.

      Eine knappe Stunde später betrat Ulrich das Möbelhaus, das sich längst mit den Besuchern des neuen Tages gefüllt hatte. Auf der Rolltreppe fuhr er in den ersten Stock hinauf, ein junges Paar vor ihm schwenkte sogleich nach rechts in Richtung Restaurant, wo morgens ein günstiges Frühstück angeboten wurde. Ulrich bog nach links in die Möbelausstellung ab, wo einige Besucher bereits auf Sofas und Sesseln verweilten, um deren Bequemlichkeit zu testen, und an Küchentischen und Schreibtischen saßen, um deren Tauglichkeit für ihr Leben auf die Probe zu stellen. Ein Rentnerpaar lief durch die Wohnzimmerausstellung, die Frau führte den Mann zu einem der ausladenden Sofas und setzte ihn dort ab, dann ging sie weiter durch die Möbelausstellung. Der Mann blickte still und friedlich umher. Eine Frau, die sich zwei gelbe Plastiktaschen um die Schultern gehängt hatte, ließ unbemerkt erst zwei kleine Tischlampen und dann drei Bücher, die sie von einem der Ausstellungsregale genommen hatte, in ihren Taschen verschwinden.

      Auf seinem Streifzug durch die Ausstellungshalle hielt Ulrich hier und da inne, griff nach einem Möbeletikett und studierte die Einzelheiten des Möbelstücks, als wäre auch er jemand, der sich zu einem Kauf entschließen könnte. Und sollte er nicht ohnehin neue Regale kaufen? Viele seiner Regale stammten noch aus Jugendtagen. Als er vor zehn Jahren endlich in eine eigene Wohnung gezogen war, hatte er sie von zu Hause mitgenommen. Doch wozu sollte er neue Regale kaufen, wenn es auch die alten noch taten? Zumindest könnte er neue Bettwäsche anschaffen, überlegte Ulrich. Er besaß nur zwei Garnituren, von denen die eine bereits dünn und verschlissen war. Doch war auch dieser Kauf unbedingt nötig? Schließlich lebte er allein und niemand konnte Bemerkungen darüber machen, dass die Kopfkissenbezüge rissig waren und am Deckenbezug unten drei Knöpfe fehlten. Was waren schon drei fehlende Knöpfe!

      Ulrich ahnte, dass er es nicht einmal schaffen würde, neue Glühlampen mitzunehmen. Am Vorabend war die Birne in der Küche durchgebrannt und er hatte keine 60-Watt-Birne mehr gefunden. Aber reichte für die Küche nicht auch eine von den 40-Watt-Birnen aus? Wäre es nicht besser, erst die alten Glühbirnen zu verbrauchen, die er noch aus dem Vorrat seiner Eltern hatte, bevor er neue energiesparende Glühlampen kaufte? Wie so oft fand er sich in einer Stimmung der allgemeinen Unschlüssigkeit wieder, aus der er sich nur durch die stille Betrachtung der anderen Möbelhausbesucher retten konnte.

      Ulrich setzte sich in einen Ohrensessel und ließ die zahlreicher werdenden Besucher an sich vorbeiströmen. Sicher waren sie alle in der Lage, das Leben tatkräftig zu meistern und ohne viel Nachdenken die richtigen Entscheidungen zu treffen.

      In der letzten Zeit hatte er sich immer häufiger im Möbelhaus aufgehalten, das er von früheren gelegentlichen Besuchen kannte. Bei seinen Beobachtungen hatte er oft das Gefühl, dass er Dinge sah, die anderen gar nicht auffielen oder von denen sich die anderen möglichst schnell abwandten, um nicht von einer möglichen Verrücktheit angesteckt zu werden.

      Und da! Schräg gegenüber nahm gerade ein älteres, aber noch jugendlich wirkendes Paar in einem der ausgestellten Wohnzimmer Platz. Die Frau holte zwei Plastikdosen und Servietten aus ihrem Rucksack und legte sie auf den Couchtisch, der Mann entnahm seinem Rucksack eine altmodische Thermoskanne. Dann packte die Frau dick belegte Brote aus und der Mann goss Tee ein. Fröhlich verspeisten sie ihr Picknick. Dabei stupsten sie sich gelegentlich in die Seiten und kicherten wie kleine Kinder. Sofort fühlte sich Ulrich von ihrer Lebensleichtigkeit und Heiterkeit angesteckt. Wie richtig es wenigstens gewesen war, sofort das Möbelhaus aufzusuchen! Ganze Tage konnte er dort der Trübseligkeit und Leere entgehen, die er in seiner kleinen Wohnung


Скачать книгу