Nebel - Ein Reich ohne Schatten. Lisa Merkens
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Nebel
Ein Reich ohne Schatten
Lisa Merkens
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Impressum:
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Lektorat: Melanie Wittmann
Titelbild gestaltet mit Bildern von © Matthew Jacques ‒ Shutterstock lizensiert
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2013.
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
ISBN: 978-3-86196-249-6 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-234-0 - E-Book
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Prolog
Sie spürte wie jedes Mal die Übelkeit in sich aufsteigen und wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Schließlich umfing sie dieses seltsame Gefühl, als sie nicht mehr auf dem frisch lackierten Holzboden, sondern auf feuchtem Waldboden stand.
„Da bist du ja endlich!“ Die Stimme, die sie begrüßte, war rau wie die eines Revolverhelden und Luna trat aus den Schatten. Sie verkniff sich ein Grinsen. Geduld, wenn man sie nicht unbedingt brauchte, hatte Luna nicht.
Sie war froh, dass sie das bereits wusste. Damals, bei ihrem ersten Treffen, hatte Luna sie mit ihrer rauen und direkten Art erschreckt. Da, wo diese herkam, war alles anders, deswegen wunderte sie sich nicht im Geringsten. „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Sie lächelte Luna strahlend an.
Diese nickte knapp, meinte: „Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du vergessen hast zu kommen.“ Sie quittierte diesen Kommentar mit einem enttäuschten, fast beleidigten Blick, worauf Luna hinzufügte: „Und ich habe vergessen, wie schnell man dich beleidigen kann.“
Sie spielte mit dem Gedanken, sich schmollend abzuwenden und gleich wieder zu verschwinden, doch dann lachte sie und entgegnete: „Ich wiederum habe vergessen, dass ich eigentlich hier bin, um euch eine frohe Botschaft zu überbringen!“
„Dann mal los!“ Nun löste sich Luke von Lunas Seite, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte.
„Ich habe einen würdigen Nachfolger gefunden.“ Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihr. Nach einem Blick auf die verwirrten Gesichter von Luke und Luna fügte sie hinzu: „Ich meine natürlich, Nachfolgerin!“ An ihrem Grinsen merkte man ihre überaus große Erleichterung.
„Und es ist wirklich sie?“ Lunas rauer Stimme hörte man hingegen deutliche Zweifel an.
„Ja, sie ist es wirklich.“
„Also, ich weiß nicht ... Sie ist laut deinen Beschreibungen und von deinen Fotos her so ... anders!“
„Hast du vergessen, wie ich war, als ich euch zum ersten Mal begegnet bin, ich hab mich doch seitdem total verändert!“ Jetzt klang auch sie selbst ungeduldig.
„Nein, natürlich nicht ... Aber sie ist trotzdem anders, als du damals gewesen bist!“
„Ach was! Sie ist bloß mein damaliges Ich von heute.“
„Ich komme mit eurer Zeit noch immer nicht ganz klar, mit eurer Rechnung und so ...“, sagte Luna kopfschüttelnd.
Bevor sie antworten konnte, mischte sich Luke ein: „Woher weißt du überhaupt, dass sie die Richtige ist?“ Er zögerte kurz, dann setzte er noch die Worte „deine Nachfolgerin“ hinzu. Er sah sie fragend an.
Sie grinste, strich sich eine Locke aus der Stirn und sagte: „Ich weiß es, weil ich ihr den Spiegel geschenkt habe und sie sich verstohlen die Gänsehaut von den Armen gerieben hat. Sie fühlt es auch ... das Prickeln ... das Geheimnis!“ Ihr eindringlicher Blick wanderte von Luke zu Luna und wieder zurück.
Die beiden schwiegen und nickten schließlich, als könnten sie verstehen, was sie mit dem Geheimnis meinte. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich nachvollziehen konnten, was es hieß, den Spiegel in den Händen zu halten.
„Ich muss mich von euch verabschieden.“ Als sie das sagte, spiegelte sich der Wald in ihren feuchten Augen. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und auch Luna und Luke sahen unglücklich aus.
„Ja.“ Luna nickte nun verständnisvoll und in ihren Augen schimmerte die Trauer über den bevorstehenden Abschied.
„Ich ...“ Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, nicht mehr sprechen zu können. „Ich wollte euch sagen, dass ... dass ... ich euch sehr dankbar für alles bin und dass ...“ Die erste Träne lief über ihr Gesicht. „Und dass ich euch sehr vermissen werde und ...“
„Hey.“ Mitgefühl schwang in Lunas sonst spöttischer Stimme. „Du machst es dir gerade unnötig schwer, weißt du das?“ Luke nickte zustimmend.
Doch sie redete weiter, obwohl sich noch mehr Tränen ihren Weg über ihre Wangen bahnten. „Dass ihr mir ... so viel geschenkt habt ... und dass ich dieses Geschenk für immer in meinem Herz trage ...“ Ein Schwall weiterer salziger Tränen rann über ihr Gesicht.
Nun war er wieder da, der Spott in Lunas Stimme. „Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass ich es hasse, wenn jemand so dramatisch wird!“
Auf ihrem Gesicht entstand ein leises Lächeln, und Luke stupste Luna vorwurfsvoll gegen die Schulter, dann wandte er sich erneut an sie. „Ich finde es wirklich sehr schade, dass du gehen musst, aber“, sein Blick wurde eindringlicher, „es ist das Beste. Das, was wir tun müssen!“
Sie nickte trotz all der Tränen, streckte die Hand aus und streichelte Luna zum Abschied über den Kopf. Zumindest versuchte sie es, denn als ihre Fingerspitzen Lunas Haare berührten, zog ihr diese mit einem schnellen Ruck die langen, spitzen Krallen über die Hand. Erschrocken riss sie den Arm zurück, doch sofort schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie dachte sich, dass sie eigentlich mittlerweile wissen sollte, dass Luna streicheln noch mehr verabscheute als hochdramatische Menschen. Sie wischte das Blut von ihrem Handrücken. Sie würde also noch mehr von hier mitnehmen als nur die Erinnerungen in ihrem Herzen, auch die Narben, die aus diesen Kratzern entstünden, würde sie immer besitzen.
„Tschüss.“ Das war das einzige Wort, das sie jetzt sagen konnte.
Wenig später stand sie wieder auf dem Holzfußboden und wischte sich mit der blutenden Hand übers Gesicht. Noch immer liefen Sturzbäche von Tränen über ihre Wangen und tropften auf den Fußboden. Für alle Zeit würde man die Wasserflecken auf dem Parkett sehen.
*
Mein Spiegelbild
Ich glaube, dass es im Leben vieler Menschen, vielleicht sogar im Leben von jedem, einen Wendepunkt gibt, doch ich glaube auch, dass dieser in meinem Dasein ein ganz besonderer ist. Deshalb will ich davon erzählen.
Ich werfe das benutzte Taschentuch in den Mülleimer, drücke die Türklinke herunter und stoße die Tür auf. Hier ist mein Reich. Meines. Es gehört niemand anderem.
Jeder, der hereinkommen will, braucht eine ausdrückliche Erlaubnis von mir. Wenn er trotzdem eintritt ohne die zugehörige Befugnis, bekommt er ganz schön Ärger. Nicht, dass ich ihn anschreien würde, nein, so etwas tue ich nicht, aber ich kann ganz schauerliche Gerüchte