Pandemie!. Slavoj Žižek

Pandemie! - Slavoj Žižek


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      Wir leben in einer Zeit, in der der größte Ausdruck von Liebe darin besteht, zum Objekt seiner Zuneigung Distanz zu halten; in der Regierungen, die für die rücksichtslose Kürzung öffentlicher Ausgaben bekannt sind, plötzlich wie von Zauberhand Milliarden bereitstellen können; in der Toilettenpapier zu einer Ware wird, die kostbarer ist als Diamanten. Es ist eine Zeit, in der, so Žižek, eine neue Form des Kommunismus der einzige Weg sein wird, um den Abstieg in globale Barbarei abzuwenden. Mit seinem lebendigen Schreibstil und Hang zu populärkulturellen Analogien (Quentin Tarantino und H.G. Wells treffen hier auf Hegel und Marx) liefert Žižek eine ebenso scharfsinnige wie provokative Momentaufnahme dieser Krise, die sich mehr und mehr ausbreitet und uns alle erfasst.

      Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph und Psychoanalytiker.

      PANDEMIE!

      PASSAGEN THEMA

      Slavoj Žižek

      Pandemie!

      COVID-19 erschüttert die Welt

      Aus dem Englischen von

      Aaron Zielinski

      Passagen Thema

      herausgegeben von

      Peter Engelmann

      Deutsche Erstausgabe

      Titel der Originalausgabe: Pandemic! COVID-19 Shakes the World Aus dem Englischen von Aaron Zielinski

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN 978-3-7092-0441-2

      eISBN 978-3-7092-5037-2

      © 2020 Slavoj Žižek

      Published by arrangement with OR Books, New York

      © der dt. Ausgabe 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

      Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

      Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

       http://www.passagen.at

      Inhalt

       Einführung: Noli me tangere

       Jetzt sitzen wir alle im selben Boot

       Warum sind wir dauernd müde?

       Ein perfekter Sturm braut sich über Europa zusammen

       Willkommen in der Wüste des Viralen

       Die fünf Phasen der Pandemie

       Das Virus der Ideologie

       Beruhigen Sie sich, und geraten Sie in Panik!

       Überwachen und Strafen? Auf jeden Fall!

       Ist es unser Schicksal, der Barbarei mit menschlichem Antlitz zu verfallen?

       Die Entscheidung ist klar: Kommunismus oder Barbarei!

       Die Verabredung in Samarra: Alte Witze neu ausgelegt

       Anhang: Zwei hilfreiche Briefe von Freunden

       Anmerkungen

      Für Michael Sorkin – Ich weiß, er weilt nicht länger unter uns, aber ich weigere mich, daran zu glauben.

      Einführung: Noli me tangere

      Als Maria Magdalena Jesus nach dessen Wiederauferstehung erkannt hatte, sagte er: „Rühr mich nicht an!“ (Joh 20,17) Wie verstehe ich, als bekennender christlicher Atheist, diese Worte? Zunächst lese ich sie zusammen mit der Antwort Jesu auf die Frage seiner Jünger, wie sie ihn nach seiner Wiederauferstehung erkennen könnten. Jesus teilt ihnen mit, dass er immer dort anwesend sein werde, wo Liebe zwischen seinen Gläubigen ist. Er wird nicht als eine Person anwesend sein, die man berühren kann, sondern als das Band der Liebe und der Solidarität zwischen den Menschen. Sie sollten ihn also nicht anrühren, sondern andere Menschen berühren und sie im Geist der Liebe behandeln.

      Heute jedoch werden wir inmitten der Corona-Pandemie mit Aufrufen bombardiert, andere gerade nicht zu berühren, sondern uns zu isolieren und eine angemessene körperliche Distanz zu wahren. Was bedeutet das für die Aufforderung: „Rühr mich nicht an“? Hände können die andere Person nicht erreichen. Nur aus unserem Inneren können wir uns einander nähern – und unsere Augen sind das Fenster ins „Innere“. Trifft man dieser Tage eine Person, die einem nahesteht (oder vielleicht auch fremd ist), und wahrt dabei die angemessene Distanz, dann kann ein Blick in die Augen des Anderen mehr enthüllen als eine intime Berührung. In einem seiner Jugendfragmente schrieb Hegel:

      Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen.1

      Es ist entscheidend, diese zwei Behauptungen nicht als entgegengesetzt zu verstehen, so als wäre die geliebte Person teils ein „wir“, ein Teil meiner selbst, und teils ein Rätsel. Besteht das Wunder der Liebe nicht darin, dass du gerade insofern Teil meiner Identität bist, als du ein Wunder bleibst, das ich nicht begreifen kann, ein Rätsel nicht nur für mich, sondern auch für dich? Um eine weitere bekannte Passage des jungen Hegel zu zitieren:

      Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichthum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nichts als gegenwärtige sind. […] Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt […].2

      Kein Coronavirus kann uns das nehmen. Es gibt also die Hoffnung, dass die körperliche Distanzierung die Intensität unserer Verbindung mit anderen sogar stärken wird. Erst jetzt, da ich so viele von denen, die mir nahestehen, meiden muss, erfahre ich wirklich ihre Präsenz und ihre Bedeutung für mich.

      Ich kann das Gelächter der Zyniker schon hören. Gut, vielleicht können wir solche Momente geistiger Nähe erleben, aber wie soll uns das dabei helfen, mit der gegenwärtigen Katastrophe umzugehen? Werden wir irgendetwas daraus lernen?

      Hegel schreibt an einer Stelle, das Einzige, das wir aus der Geschichte lernen können, sei, dass wir nichts aus der Geschichte lernen. Ich bezweifle daher, dass die Pandemie uns klüger machen wird. Klar ist nur, dass das Virus die Fundamente unseres Lebens zerrütten wird. Es wird nicht nur unvorstellbares Leid verursachen, sondern auch eine wirtschaftliche Verwüstung anrichten, die möglicherweise schlimmer sein wird als jene, die auf die Große Rezession folgte. Es gibt kein Zurück zur Normalität. Wir werden die neue „Normalität“ auf den Ruinen unseres alten


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