Nichts als die Wahrheit. Michael Kohlmeier

Nichts als die Wahrheit - Michael  Kohlmeier


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       Michael Köhlmeier

       Nichts als die Wahrheit

       Zehn Stories

      Mit einem Nachwort von

      Michael Fleischhacker

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      ÜBER DEN AUTOR

      Michael Köhlmeier, 1949 in Vorarlberg geboren, ist Autor zahlreicher Romane (zuletzt: „Die Geschwister Lenobel“) und Kurzgeschichten. Seine Nacherzählungen antiker Sagen und biblischer Geschichten gehören zum österreichischen Bildungskanon. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

      ISBN 978-3-200-06674-8

      eISBN 978-3-200-06696-0

      © Edition QVV, Wien 2019

      Edition QVV ist ein Verlag der Quo Vadis Veritas Redaktions GmbH

      Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Nachwort: Michael Fleischhacker

      Einbandgestaltung und Satz: Sophie Gudenus

      Lektorat: Lucia Marjanović

      Druck und Bindung: C. Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

      Printed in Austria

      Besuchen Sie uns im Internet:

      www.qvv.at und www.addendum.org

      Inhalt

       Nichts als die Wahrheit

       Eine Wolke vor dem Gesicht

       Das Rätsel des Vergessens

       Ein verlorener Sohn

       Lohn der Angst

       Ein anderes Leben

       Die neuen Welten des Herrn Edmund

       Die Auswanderer

       Jakob, der Verfolgte

       Interview mit dem kriminellen Element

       Nachwort

      Nichts als die Wahrheit

      Ein ehemaliger Mitschüler rief mich an; in der Volksschule waren wir befreundet, und ich sag es gleich: Für mich war es eine Ehre, von ihm als Freund bezeichnet zu werden. Ob ich mich mit ihm treffen wolle. Er müsse etwas „abladen“. – Ich nenne ihn Egon, auch den Nachnamen erfinde ich: Reuter. – Wir trafen uns in Wien, weit weg von dem Ort, wo wir geboren wurden. Und weil, was er bei mir „abladen“ wollte, mit diesem Ort zu tun hat, bat er mich, falls ich über die Angelegenheit etwas schriebe, auch den wahren Namen der Gemeinde nicht zu nennen. Sein Vater sei vor wenigen Wochen gestorben, erzählte er, fast neunzig sei er geworden, und vor seinem Tod habe er ihn zu sich gebeten, um ihm eine Wahrheit zu sagen, die unter allen Umständen noch ausgesprochen werden müsse. Egons Mutter war schon vor Jahren gestorben. Sie hatte bis zu ihrem Tod keine Ahnung gehabt von dieser Wahrheit.

      Wenige Monate nach Egons Geburt, so erzählte ihm sein Vater, habe eine junge Frau an der Wohnungstür geklingelt. Sie wolle mit Egons Mutter sprechen, sagte sie, die Wahrheit müsse endlich ans Licht. Sie war sehr aufgeregt und nahe daran zu weinen und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Herr Reuter – er gestand seinem Sohn alles – hatte damals eine Geliebte, die schon seit drei Jahren seine Geliebte war, der er Hoffnung gemacht hatte, von Scheidung hatte er gesprochen, sie war sehr eifersüchtig, und er hatte ihr mehrfach geschworen, dass er mit seiner Frau nicht mehr geschlechtlich verkehre. Als sie erfuhr, dass er Vater wird, zerkratzte sie sich ihr Gesicht und ging vor ihm in die Knie. Er hatte im Stillen gehofft, sie werde die Beziehung abbrechen; er traute sich das nämlich nicht, er fürchtete, sie werde sich etwas antun. Sein erster Gedanke, als die junge Frau an der Wohnungstür von einer Wahrheit sprach, die ans Licht müsse, war: Sie ist eine Freundin seiner Geliebten, die vorgeschickt wurde, um ihn vor seiner Frau auffliegen zu lassen. Rache. Er sagte, seine Frau sei krank, sie liege im Bett, habe hohes Fieber, jede Aufregung müsse ihr erspart werden. Ob er Egons Vater sei, fragte die junge Frau. Dann wolle sie eben ihm die Wahrheit sagen. Er schlug vor, einen Spaziergang zu machen, dabei solle sie ihm alles erzählen.

      Die junge Frau arbeitete im Krankenhaus als Schwester auf der Entbindungsstation. Als Egon geboren wurde, ja, gerade an diesem Tag, habe sie auf der Station angefangen. Und dieser Tag sei ein außergewöhnlicher Tag gewesen, vier Kinder seien an diesem Tag zur Welt gekommen. Das Krankenhaus war klein und die Entbindungsstation erst neu eingerichtet, manchmal tat sich dort einen Monat lang gar nichts. Drei von den vier Kindern waren Buben: Egon, Hermann – so nenne ich den anderen – und ich. Durch unsere Volksschulzeit hindurch wurden wir nur „die Drillinge“ genannt. Hermann und Egon, so erzählte die junge Krankenschwester Herrn Reuter unter Tränen, seien vertauscht worden. Und sie sei schuld. Eben weil auf einmal drei dagewesen seien, drei Buben. Sie habe das Versehen sofort aufdecken wollen. Bis heute könne sie sich nicht erklären, wie das habe passieren können. Sie habe, das sei gewesen am zweiten Tag nach den Geburten, die Säuglinge in die falschen Bettchen gelegt, sie habe die Fußsohlen mit Tintenblei markiert, wahrscheinlich zu wenig markant. Sie habe unglücklicherweise in den darauffolgenden Tagen Urlaub genommen, weil ihre Schwester geheiratet habe und die Familie nach Südtirol gefahren sei. Und dann Wochenende, alles zusammen sei sie eine Woche nicht im Krankenhaus gewesen. Aber als sie die Mütter in ihren Betten gesehen habe, wie sie voll Liebe und Glück jede den falschen Sohn an der Brust hatten, da habe sie es nicht übers Herz gebracht. Sie habe es einfach nicht fertiggebracht. Sie habe es, das sei eben der schwere Fehler gewesen, die schwere Sünde, hinausgeschoben und hinausgeschoben und noch einmal hinausgeschoben. Bis es nicht mehr ging. Aber jetzt müsse sie es sagen, endgültig. Sie habe nämlich gekündigt, sie werde wegziehen und ebenfalls heiraten und nie wieder hierher zurückkommen, und sie habe Angst, einen Fluch auf sich zu laden, wenn sie nicht endlich die Wahrheit sage.

      Herr Reuter war sehr erschrocken, wie gelähmt war er; bei allem und jedem brauchte er Zeit, um sich zu entscheiden. Er sagte „Danke“, ging nach Hause und dachte nach. Dass er den winzigen Buben inzwischen sehr lieb gewonnen hatte, das verstand sich von selbst. Nach jeder Stunde, seit das Kind bei ihnen war, meinte er, beobachtet zu haben, wie es Schale um Schale die Welt kennenlernte, die Entfernung vom Mund zum Schnuller, den Unterschied zwischen dem langsam sich bewegenden Finger des Vaters und dem schnell sich bewegenden der Mutter, den Unterschied zwischen den hohen Brummtönen der Mutter, wenn es auf ihrem Bauch lag, und den tiefen des Vaters; der Vater bildete sich ein, der kleine Egon hatte die tiefen Töne lieber – der kleine Egon, der gar nicht der Egon war. Seine Geliebte hatte Herr Reuter nicht mehr getroffen und kaum mehr an sie gedacht. Sie hatten miteinander telefoniert, zwei Tage vor der Geburt, sie hatte ihn im Amt angerufen und nur in den Hörer geweint. Herr Reuter hoffte so sehr,


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