Nichts als die Wahrheit. Michael Kohlmeier

Nichts als die Wahrheit - Michael  Kohlmeier


Скачать книгу
seine Geliebte nicht mehr; wenn er im Amt zum Telefon gerufen wurde und ihre Stimme hörte, drückte er verstohlen auf die Gabel und tat vor den Kollegen so, als spreche er mit jemandem Unverfänglichen.

      Er brauchte Zeit, sich zu entscheiden, er dachte nach. Die Krankenschwester hatte einen schweren Fehler begangen, die Folgen jedoch, die würde sie nicht tragen müssen, nein. Aber er. Er dachte dabei nicht an eventuelle juristische Folgen. Er dachte an die Verzweiflung seiner Frau, an die Verzweiflung der anderen Frau, die Verzweiflung des anderen Vaters, an seine eigene Verzweiflung. Vier Verzweiflungen. Ob ich Schuld habe oder nicht, dachte er, für die Verzweiflungen werde ich dennoch verantwortlich sein. Warum? Weil ich dafür sorgen könnte, dass sie erspart bleiben. Wie? – Indem er nichts tat. Indem er den Dingen ihren Lauf ließ.

      Wenige Wochen vor seinem Tod erklärte Herr Reuter seinem Sohn, der eigentlich nicht sein Sohn war, dass er damals nicht etwa einen Plan gefasst habe; er habe die Entscheidung verschoben, von einem Tag auf den anderen. Wie die unglückselige Krankenschwester die Entscheidung verschoben habe, von einem Tag auf den anderen. Er habe das Glück seiner Frau gesehen, er habe sein, also Egons, Glück gesehen, seine Lust, an der Brust der Mutter zu saugen, die gar nicht seine Mutter war, sein Lachen, wenn er nur ihre Stimme hörte, sein Gurren, wenn er, der falsche Vater, die Nase an seinem Näschen rieb. Und dann – auf einmal sei ein Jahr dahingegangen, und die Kinder feierten ihren ersten Geburtstag. Da habe er sich entschieden. Er habe sich entschieden, dafür zu sorgen, dass die vier Verzweiflungen, eigentlich die sechs Verzweiflungen, denn auf ihre Art würden ja auch die Kinder über die Wahrheit verzweifelt sein, dass allen all der Kummer erspart bleibe. Er habe entschieden: nichts zu tun.

      Egons Vater war Angestellter bei der Gemeinde, Marktkommissär sagte man damals, was genau darunter zu verstehen war, wusste ich nicht und weiß es bis heute nicht. Die Familie hatte nicht viel; Marktkommissär klang besser, als es auf dem Gehaltszettel aussah. Egon war ein beliebter Schüler; wer sein Freund sein durfte, war stolz; er studierte, wurde Chemiker, und bald wurde ihm in einer pharmazeutischen Firma eine gute Anstellung angeboten, die er bis zu seiner Pensionierung behielt. Er fand eine feine Frau, sie haben drei Kinder, aus allen ist etwas geworden; sie lieben ihren Vater; einzig zu bemängeln ist vielleicht seine Zögerlichkeit, die man aber auch Besonnenheit nennen kann, was dann auch kein Mangel mehr ist.

      Hermann, der eigentlich hätte Egon heißen sollen, war der – falsche – Sohn eines Notars. Auch er war geliebt worden; er hatte viele Talente, womöglich sogar am meisten von uns Drillingen. Aber aus ihm war nichts geworden. Sein Vater – sein richtiger Vater – erkundigte sich immer wieder heimlich nach ihm. Er wisse nicht, sagte er zu Egon wenige Wochen vor seinem Tod, ob er sich freuen oder sich schämen solle.

      Eine Wolke vor dem Gesicht

      In ihrer Jugend, als am Land die Sitten noch streng waren, als das Tragen von Bikinis verboten war und der Twist und Das Schweigen von Ingmar Bergman, eines Nachmittags im September, da meinte Johanna, aus der Sonne heraus trete eine Gestalt, setze einen Fuß auf eine Wolke, den anderen auf den Berg und steige vom Himmel herab und werde immer kleiner, je näher sie komme.

      Johanna war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen und war in den letzten Tagen von einem Mann, den sie nur aus dem Laden kannte und draußen noch nie gesehen hatte, „sehr direkt“ angeschaut worden. Er hatte den Blick auf ihr gelassen, als er ihr einen Zwanziger für die Semmeln gab, und hatte seine Hand nicht angesehen, als sie das Restgeld hineinlegte. Sie kannte ihn als Kunden, wusste aber seinen Namen nicht. Er war einer der Ersten jeden Morgen, die Bäckerei öffnete um halb sechs. Johanna war nicht schüchtern, und der Blick des Mannes war nicht böse. Warum er sie so ansehe, fragte sie.

      „Du gefällst mir“, hatte er gesagt.

      Das wiederholte sich von nun an jeden Morgen. Mehr als das sagten sie beide nicht. Sie freute sich auf den Mann, jeden Morgen.

      Sie hätte Frau Mathis, die Besitzerin der Bäckerei, fragen können, wer der Mann sei. Das wollte sie nicht. Sie fürchtete, der Zauber würde verfliegen. Der Mann sah gut aus, Johanna schätzte ihn auf dreißig, höchstens fünfunddreißig. Er war groß und hatte breite Schultern und einen merkwürdig geschwungenen Mund, der sich nicht deuten ließ. Einmal meinte sie, er sei ironisch, dann, er sei brutal, einmal zart, einmal grob. Vielleicht liegt es am Lichteinfall, versuchte sie sich einzureden. Unberechenbarkeit mochte sie nicht und mochte sie doch.

      Nach dem vierten oder fünften Morgen sagte er: „Ich will dir etwas sagen.“

      „Was denn noch?“, fragte sie. „Sie sagen ja jeden Morgen etwas zu mir.“

      „Was ich dir sagen möchte, kann ich hier nicht sagen.“

      „Dann sollten Sie es irgendwo anders wahrscheinlich auch nicht sagen.“

      „Das ist richtig“, sagte er.

      „Und wie tun wir jetzt?“, fragte sie.

      Wenn sie hören wolle, was er ihr zu sagen habe, solle sie am Abend nach ihrer Arbeit in der Schillerallee bei der zweiten Bank von oben auf ihn warten. Das tat sie.

      Er sagte, er wolle ihr Geliebter werden. Das wurde er.

      Er hieß Egon und arbeitete bei der Gemeinde, er war Marktkommissär und tatsächlich erst neunundzwanzig, nicht dreißig, nicht fünfunddreißig, das war ihr recht. Er besuchte das Abendgymnasium, er wollte die Matura machen und dann Chemie studieren. Viel mehr erzählte er von sich nicht.

      In der ersten Zeit trafen sie sich nur im Freien. Egon besaß ein Moped mit einer Sitzbank. Sie fuhren ins Ried, dort war ein dichter Fichtenwald, vor dem Krieg eine Christbaumzucht, während des Krieges vergessen, ein rechteckiges Stück Land, gut hundert Meter lang und fünfzig Meter breit. Egon schob das Moped zwischen die Bäume, damit man es von draußen nicht sehen konnte, aber es war unwahrscheinlich, dass jemand vorbeikam, hier gab es nichts, die Wiesen und Äcker rundum lagen brach. Es war Sommer, in der Mitte des Waldes war es kühl und dunkel. Der Boden war mit Fichtennadeln bedeckt. Egon breitete eine Decke aus und legte eine zweite darüber, mit der sie sich zudecken konnten. Noch schämten sie sich voreinander, ganz nackt sehen wollten sie einander nicht. Das heißt, Egon wollte es nicht. Johanna hätte es schon gewollt.

      Fast jeden Abend trafen sie sich. Selten länger als eine Stunde. Nicht an den Wochenenden. Johanna wohnte bei ihren Eltern, die besaßen ein kleines Haus, dort schlief sie in ihrem Mädchenzimmer, in dem gerade ein schmales Bett und ein Kleiderkasten Platz hatten. Einmal machte sie den Vorschlag, Egon solle doch in der Nacht zu ihr kommen, das sei völlig ungefährlich, er könne durchs Fenster steigen, die Eltern würden fest schlafen. Das wollte er nicht, und sie fragte nicht mehr. Wo er wohnte, wusste sie nicht so genau. In einer Straße, die erst neu angelegt worden war, wo kleine Häuser standen, die alle gleich aussahen und noch unverputzt waren. Dort, vermutete sie, wohne er. Aber sie vermutete es nur. Und warum er so wenig von sich erzählte, vermutete sie auch.

      Als der Sommer vorbei war, fragte sie ihn: „Bist du verheiratet? Hast du eine Frau?“

      Er holte tief Atem und sagte: „Dann ist es jetzt also so weit zwischen uns. Ja. Ja.“

      Da brach sie zusammen.

      Die Knie hielten ihr Gewicht nicht mehr, und sie sank nieder. Zugleich aber dachte sie: Warum breche ich zusammen? Tut es so weh? Er sagt mir doch nichts Neues. Ich habe es mir schon gedacht, als er zum ersten Mal sagte, dass ich ihm gefalle. Warum tue ich jetzt so, als breche ich zusammen. Vor ihm tu ich so, und vor mir selber tu ich so.

      Mitten in der Bäckerei war sie zusammengebrochen. Am frühen Morgen, noch bevor es hell wurde. Und Egon war davongelaufen. Hatte sie liegen lassen. Frau Mathis fand sie und gab ihr für diesen Tag frei. Das komme vom niedrigen Blutdruck, sagte sie, sie solle mehr Salz essen.

      An diesem Nachmittag schien die Septembersonne so schön, und Johanna legte sich im Garten in den Liegestuhl, und da sah sie die Gestalt, die aus der Sonne trat, einen Fuß auf eine Wolke setzte, den andern auf den Berg, und auf sie zuging und kleiner wurde, je näher sie kam.

      Ein Stück Wolke hatte die Gestalt mitgebracht, vielleicht war sie angestreift, das hatte


Скачать книгу