Ein unbekannter Meister. Hannes Sonntag


Ein unbekannter Meister - Hannes Sonntag


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      Hannes Sonntag

      Ein unbekannter Meister

      Literatur der Zukunft

       Inhaltsverzeichnis

       Cover

       Titel

       1

       2

       3

       4

       5

       6

       7

       Impressum

      Ich habe nicht versucht herauszufinden, woher genau er stammte, wo er vielleicht geboren wurde. In solchen Dingen bin ich zwar geübt und hätte daher mit einem gewissen Vergnügen die vorgegebenen Anhaltspunkte ausschöpfen können. Aber seine Bitte, eben dies nicht zu tun und sein Bedürfnis nach Schutz über meine Neugier und den mit ihr verbundenen geographischen Spieltrieb zu stellen, habe ich sofort respektiert. Mein guter Freund und Reisebegleiter, dem ich gleich anfangs in großen Zügen von allem berichtete, assoziierte nach etlichen Gedankenrunden Kischinow in Moldawien, – ohne für diese Hypothese Gründe anbieten zu können, die mehr gewesen wären als die bildfreudige Stringenz seiner Fantasie. Mit anderen Worten: genauso gut hätte bei diesem Purzelbaum so etwas wie Sarajewo oder Kronstadt herauskommen können. Ich meinerseits brachte das Kunststück fertig, gleich hier schon den Ratepfad zu verlassen.

      Das führt sogleich zu der berechtigten Frage, was mich überhaupt an diesem Menschen so in Interesse stürzte, dass ich Ihnen heute von ihm erzähle und dabei durchaus in Kauf nehme, ihr vermutlich gutes Bild von mir zu riskieren. Umgekehrt, haben Sie jemals einen völlig unscheinbaren Mann um die fünfzig gesehen, – spärlich rötliches Haar, leichtes Schielen links bei wechselnd an- und abwesenden Augen, Bauchansatz und Sommersandalen –, der im Augenblick Ihrer völligen Erwartungslosigkeit zu einer Art Heiligem mutiert, einer ins Alltägliche heruntergebrochenen Erscheinungsform von Engel?

      Ich muss Ihnen von meiner ersten Begegnung mit diesem Mann erzählen, damit Sie verstehen, was ich meine. Mein Freund (der mit der schnellen Fantasie) hatte mich überredet, ihn auf einer dreitägigen Tour an die Ostsee zu begleiten. Auf der Stecke dorthin und auch vor Ort plante er, einige Antiquitätenhändler aufzusuchen, die er zum Teil bereits vorab kontaktiert hatte. Mein Freund, wissen Sie, sammelt seit vielen Jahren mit Leidenschaft antike Möbel, und da natürlich die Optionen begrenzt sind, seine erworbenen Stücke auch zu stellen, verkauft er seinerseits häufiger das ein oder andere Stück, um ein besseres an dessen Stelle zu setzen. So verschieben sich für ihn zunehmend die Grenzen zwischen Sammler und Händler, und ich glaube, wenn er ehrlich wäre, müsste er eingestehen, dass sich sein Leben inzwischen stärker zwischen Barocksesseln und Biedermeierkommoden abspielt als in den nüchternen Räumlichkeiten seines Statistik-Büros, – das ungeachtet dieser Neigungsverschiebung die Kuh bleibt, die er nach wie vor zugunsten seiner Schöngeisterei zu melken hat.

      Jedenfalls hatten wir bereits anderthalb kühlwindige Frühlingstage hinter uns, ohne mehr an Bord genommen zu haben als den holzwurmbefallenen Schatten eines Louis seize-Stuhls. An diesem Nachmittag fanden wir uns am Rand einer mir sonst nicht bekannten Kleinstadt, die bei aufblendender Sonne eben aus einem Regenguss hervorging. Mein Freund – ich vergaß seinen Namen zu erwähnen: er heißt Achim, Achim Pritzwalk, oder, wenn Sie es ganz genau wollen: Doktor Achim Pritzwalk – hielt im ungemähten Saum eines schmalen Brachlands, hinter dem eine umgewidmete Ziegelsteinremise die Werkstatt seines Partners bildete. Der selbst war gerade nicht da, wohl aber ein Mitarbeiter, der uns aus dem Hintergrund begrüßte. Er schob, während er wie nebenbei kleine Handarbeiten weiterführte, ein paar Möbelstücke mit dem Knie beiseite und versuchte dann, uns in einem einwandfreien, aber fremd getönten Deutsch ein wenig zu unterhalten. Unterdessen spürte ich, dass der leichte Silberblick seines linken Auges gelegentlich meinen Bauch überflog. Ich trage nun keine Sachen, die für wen auch immer so etwas wie ein Hingucker sein könnten, hätte mich also fragen müssen, ob ein Eierfleck auf dem Pullover sei oder eine Spinne am Hemdausschnitt sitze, wenn mir nicht gleichzeitig das Gefühl eines warmen inneren Stroms vom Becken aus bis in den Magen hochgezogen wäre. Ich konnte es mir nicht erklären, fand es aber unglaublich angenehm, zumal – wir sind ja unter uns: also, ich leide seit Jahr und Tag und litt auch zu genau diesem Augenblick unter nervösen, oft sehr schmerzhaften Magenbeschwerden – zumal also meine Schmerzen ihre vergrübelten Faltenwürde verließen und irgendwohin verschwanden, wo ich sie nicht mehr wahrnahm.

      Ich erlebte ungläubig diesen plötzlichen Zustand von Bauchfreiheit, erbrütete in einer Art von Wohlstarre einen eingebildeten Kreis um mich, hinter dem sich alle Gegenstände wie Personen auf mich konzentrierten und meiner Veränderung nachlauschten. So dass mir das Schulterklopfen des Ladenbesitzers beinah wehtat, – ich hatte ihn einfach nicht von draußen hereinkommen sehen und blickte nun unerwartet in ein offenes, ländlich gerötetes Gesicht mit blondem Vollbart. An seine Begrüßungsworte kann ich mich kaum erinnern. Erst als er voll des Lobes auf seinen Mitarbeiter zu sprechen kam, schaltete sich mein Empfänger wieder ein. »Jakob kommt aus dem Osten«, sagte er und vergewisserte sich mit einem schmalen Blick über den Ärmel, ob wir außer Hörweite wären, »Schicksale gibt’s, die möchte man lieber nicht genauer kennen. Aber Sie sehen«, ließ er es enden, »Leid macht gut, gute Menschen, meine ich, manchmal wenigstens, aber hier«, schloss er bestimmt, »trifft es zu.«

      Was ich nun, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, gar nicht erwartet hatte, aber in einer merkwürdig warmen Stumpfheit widerspruchslos hinnahm: Achim warb um Verständnis dafür, vor Ort eine Übernachtung einzuschieben. Offenbar versprach die Sichtung eines irgendwo weiter außerhalb abgestellten Empire-Sekretärs ein beidseitiger Geschäftserfolg zu werden. Auf Empfehlung quartierten wir uns in der »Schwarzen Krone« ein, dem wahrscheinlich besseren der beiden in Frage kommenden Gasthöfe im Ort. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich etwas auszuruhen, öffnete eines der beiden Fenster in meinem Zimmer auf Spalt und zog die Gardinen vor, die das Tageslicht kupferbraun gefiltert passieren ließen. Gott, welch eine Matratze, mein Rücken beugte sich durch wie ein Embryo im Mutterleib, aber immerhin, ich lag, die Strümpfe gerade noch abgestreift. An Kopf und Füßen wie immer zu warm begann mein übliches Spiel mit der Bettdecke, während gleichzeitig frei schwebende Filmschnipsel hinter meinen halb geschlossenen Augen ihre Tagesschauplätze verließen.

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