Die Utopie des Sozialismus. Klaus Dörre

Die Utopie des Sozialismus - Klaus Dörre


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      Klaus Dörre

      Die Utopie des Sozialismus

      Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution

      Anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels

      und für die Aktiven in der Klimabewegung

      unserer Zeit

      Gliederung

       Zur Einführung, Selbstverortung eingeschlossen

       I Visionen: »Pandemie stoppt Klimawandel!«

       II Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?

       III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie

       IV Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän

       V Gründe: Warum nachhaltiger Sozialismus?

       VI Nachhaltigkeit: Eine neue Rechtfertigungsordnung

       VII Fundamente: Konturen nachhaltig sozialistischer Gesellschaften

       VIII Produktivkräfte: Digitaler Sozialismus?

       IX Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben

       X Katastrophen: Sozialismus oder Pandemie

       XI Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!

       Zum Schluss: Sozialismus im Handgemenge

       Anmerkungen

       Literaturverzeichnis

      Zur Einführung, Selbstverortung eingeschlossen

      Das Auditorium Maximum der Leipziger Universität im Mai 2019. Vor dem zum Bersten gefüllten Saal drängen sich hunderte Studierende, um an der Gründung von Students for Future teilzunehmen. Mein Part ist es, in die Debatte um die Erderhitzung und deren gesellschaftliche Folgen einzuführen. Auf die an das Publikum gerichtete Frage, ob die klimapolitisch gebotene Nachhaltigkeitsrevolution innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sei, antwortet ein vielstimmiges »Nein!« Der Vorschlag, große Konzerne wegen ihrer Blockadehaltung gegenüber Klimazielen zu sozialisieren, erhält tosenden Applaus. Einigen Veranstalter:innen steht deshalb der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Angesichts der gerade erst im Entstehen begriffenen Bewegung wären ihnen weniger radikale Statements lieber gewesen. Doch solche Befürchtungen erweisen sich als unbegründet. Die Vollversammlung wird zu einem grandiosen politischen Erfolg, denn sie wirkt nach. Den Leipziger Ereignissen folgt ein bundesweiter Klimaratschlag in Jena. Er wird zu einem der Ausgangspunkte für neue politische Allianzen, die einen labour turn der Klimabewegung und zugleich einen climate turn von Gewerkschaften und anderen arbeitsorientierten Akteuren anstreben.1

      Ich hebe dieses Ereignis hervor, weil es mich für einen lebensverlängernden Augenblick spüren ließ, dass ein ökologisch inspirierter Sozialismus zu einer höchst lebendigen Praxis werden kann. In Bewegungen mit großer Mobilisierungsfähigkeit verfügt er über eine riesige soziale und politische Basis. Dass die etablierte Linke diesen Kraftquell kaum zu nutzen weiß und er allenfalls Parteien zugutekommt, die ihre ökosozialistische Vergangenheit lange hinter sich gelassen haben, steht auf einem anderen Blatt. Dieses Problem ist in erster Linie hausgemacht. Gleich ob Migrationsregime, Haltung zur Europäischen Union, Umgang mit Rassismus und der radikalen Rechten oder das Management der Coronapandemie – es findet sich kaum ein Thema, das ungeeignet wäre, der gesellschaftlichen Linken Rohstoff für ihre Lieblingsbeschäftigung zu liefern. Gemeint ist der Hang zu vermeintlich absoluten Wahrheiten, zu Sektierertum und Selbstzerfleischung. Von einem linken Mosaik, wie es der Gewerkschaftsintellektuelle Hans-Jürgen Urban als idealtypischen Entwurf konzipiert hat2, sind wir, inmitten einer epochalen Krise des globalen Kapitalismus, meilenweit entfernt.

      Schlimmer noch, innerhalb der Linken regiert die Hermeneutik des Verdachts. Wer auch nur andeutet, die imaginäre Revolte der radikalen Rechten habe etwas mit sozialen Verwerfungen zu tun, sieht sich sogleich mit dem Vorwurf der Rassismusverharmlosung konfrontiert. Umgekehrt heißt es, Plädoyers für ein offenes Migrationsregime ignorierten Alltagssorgen, mit denen sich »einfache Leute«3 auch in reichen Gesellschaften herumzuplagen hätten. Bei den Auseinandersetzungen um den ökologischen Gesellschaftskonflikt verhält es sich ähnlich. Üben sich die einen in der Kritik einer imperialen Lebensweise, die Herrschende und Beherrschte reicher Gesellschaten Beutegemeinschaten zur Ausplünderung ärmerer Länder zurechnet, verschanzen sich die anderen hinter den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten, weil sie annehmen, dass Politik zugunsten der Benachteiligten nur innerhalb dieser Arena möglich sei. Zwischentöne sind da nur Krampf im gegenseitigen Abwertungskampf.

      Doch so unterschiedlich die jeweiligen Lager in ihren politischen Positionierungen auch sein mögen, in einem Punkt finden sie zumindest an ihrer Spitze und trotz wechselseitiger Ablehnung, ja Abschottung gerne zusammen. Das S-Wort schreckt sie ab. Mit Visionen einer sozialistischen Gesellschaft möchten sich Wortführer:innen der streitenden Lager eher nicht belasten.4 Dafür gibt es gute Gründe. Die Erinnerung an die Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus ist zumindest bei den Älteren noch frisch. Aber auch die Begrenztheiten sowohl klassischer sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatspolitik als auch deren Revision in Gestalt eines Dritten Weges, wie ihn Tony Blair, Gerhard Schröder oder Bill Clinton verkörperten, haben das politische Bewusstsein geprägt. Ergibt es in einer derartigen Konstellation wirklich Sinn, den Sozialismus, nunmehr als ökologischen oder besser: als demokratisch-nachhaltigen, wieder zu beleben?

      Meine Antwort ist ein klares Ja. Dabei bin ich mir bewusst, dass es sich um ein Ja handelt, das in der hier vorgestellten Version gegenwärtig wohl nur eine kleine Minderheit teilt. Den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten, für den Karl Marx und Friedrich Engels einst ihr Manifest der Kommunistischen Partei schrieben, dürfte es in persönlich ungleich schwierigerer Situation kaum anders ergangen sein. Im Unterschied zu ihnen formuliere ich meine Gedanken als Beamter auf Lebenszeit, ausgestattet mit einem Professorengehalt, aus einer privilegierten Position heraus und deshalb mit geringem Risiko. Ein wenig passt das zu Jena, der kleinen, idyllischen Stadt im Saaletal, in der ich mit meiner Familie seit vielen Jahren gerne lebe. Hier besitzt der Kathedersozialismus, über den schon Marx und Engels spotteten, durchaus eine Tradition.5 Ein Kathedersozialist bin ich dennoch nicht. Dabei hilft mir, wenn man so will, die Gnade der frühen Geburt. Ich gehöre zur politischen Generation der Postachtundsechziger, für deren engagierten Teil die Organisierung in einem sozialistischen oder kommunistischen Verband geradezu selbstverständlich war. Altersbedingt blicke ich deshalb mit anderen Augen auf den verblichenen Sozial- und den nun ebenfalls vergehenden Finanzkapitalismus als Angehörige von Jahrgangskohorten, deren politische Sozialisation mit dem Aufstieg neuer sozialer Bewegungen und grün-alternativer Parteien in den 1980er Jahren zusammenfiel.

      Wie


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