Der Fortschritt dieses Sturms. Andreas Malm
Andreas Malm
Der Fortschritt dieses Sturms
Natur und Gesellschaft in einer sich erwärmenden Welt
Aus dem Englischen von David Frühauf
Inhalt
Einleitung. Theorie des Erwärmungszustands
1 Über den Bau der Natur. Wider den Konstruktionismus
2 Über kombinierte Entwicklung. Wider den Hybridismus
3 Über das Wirken der Materie. Wider den Neuen Materialismus
4 Über Einhörner und Paviane. Für einen Klimarealismus
5 Über die Gefahren des Eigentums. Entwurf für die Fahndung nach dem Sturm
6 Über den Nutzen der Unterschiede. Lob der Polarisierung
7 Über widerspenstige Natur. Ein ökologischer Autonomismusversuch
8 Schluss. Ein Schritt zurück, zwei Schritte vor
Schon waren beide Köpfe eins geworden, als zwei Gestalten sich in einer Fratze vereinigt zeigten und drin beide schwanden.
[…]
Das ganze frühre Aussehn war vernichtet: zwei und doch keiner schien, was man jetzt sah; mit dieser Uniform ging er langsam weg.
Dante, im achten Kreis der Hölle (25. Gesang)
Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.
Karl Marx, Das Kapital. Bd. 1
Der Himmel ist im Wandel.
Tosend nähert sich ein Sturm.
Nebel heult,
Platzregen grollt.
[…]
Die Geldmänner, verschließen die Augen und behaupten, dieses Grollen, das sollen Tiefflieger sein.
Kae Tempest, Sollen sie doch Chaos fressen
Einleitung. Theorie des Erwärmungszustands
NIEMALS IN DER HITZE DES MOMENTS
Gibt es noch Zeit in dieser Welt? In einem 2015 in der Zeitschrift New Left Review veröffentlichten Essay formulierte Fredric Jameson von Neuem seinen dreißig Jahre alten Befund der Postmoderne als »Vorherrschaft des Raums über die Zeit«.1 Wir leben nach wie vor in einer Phase, in der es nichts als Gegenwart gibt. Vergangenheit wie Zukunft haben sich in einem fortwährenden Jetzt aufgelöst und halten uns in genau dem Moment gefangen, dessen Verbindungen weder vor noch zurück reichen: Allein die Dimension des Raums erstreckt sich in alle Richtungen, über die nahtlose Oberfläche einer globalisierten Welt, in der durch unzählige Fäden alle mit allen anderen verbunden sind – die Zeit hingegen fließt längst schon nicht mehr. Oder, wie Jameson es ursprünglich in Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism ausdrückte:
Wir bewohnen mittlerweile das Synchrone anstatt des Diachronen, und zumindest empirisch halte ich es für diskutabel, dass unser Alltag, unsere psychische Erfahrung, unsere kulturellen Sprachen heute eher von der Kategorie des Raumes bestimmt werden als – wie in der vorangegangenen Periode der Hochmoderne – von der Kategorie der Zeit.2
Diese Verschiebung der Dimensionen markiert mehr als alles andere den Anbeginn der Postmoderne – und genau an diesem Punkt befinden wir uns nach wie vor.
Der Befund selbst hängt stark von der Ausrottung der Natur ab. Jameson argumentiert in etwa so: In der Neuzeit waren noch vereinzelt Felder der alten Natur zwischen den geschäftigen neuen Zentren von Produktionsstätte und Markt verstreut zu finden. Eine kurze Fahrt brachte die Modernistin stets zurück in das ländliche Dorf, in dem sie geboren worden war; während altertümliche Lebensweisen jedweden Horizont prägten, beschleunigte sich der moderne Modus innerhalb einer an das Natürliche und Unvergängliche geknüpften Landschaft. Es war dieser Kontrast, der die Modernist:innen die Bewegung der Zeit fühlen ließ – vom Alten zum Neuen, in Richtung Zukunft – und ihre Kultur so grundlegend strukturierte. Heute aber mangelt es an dieser Kontrastfigur. Bäuer:innen, Grundeigentümer:innen, Handwerker:innen und Straßenhändler:innen sind aus dem Blickfeld verschwunden, und mit ihnen »ist auch die Natur triumphal ausgemerzt worden«.3 Anstelle von Dörfern gibt es ringsum nur mehr Vorstädte; egal, wie weit die Postmodernistin fährt, sie wird auf Bewohner:innen derselben kulturellen Gegenwart treffen, die dieselben Programme schauen oder – um die Analyse zu aktualisieren –Bilder in denselben Netzwerken posten. Das Neue stellt die einzige Möglichkeit dar, und nach ebendieser Logik verliert es an Bedeutung und Glanz. Anstatt also voranzukommen, scheinen wir auf ewig im automatisierten Markt des unablässig Neuen festzustecken. In diesem Sinne ist die Postmoderne »das, was man hat, wenn der Modernisierungsprozess abgeschlossen ist und die Natur endgültig verschwunden ist«; ohne »die Vorstellung von Natur und dem Natürlichen als einer Art letztgültigem Inhalt oder Referenten« kann es kein Zeitempfinden mehr geben und bleiben wir in den Megastädten gestrandet, worin Glasflächen einander spiegeln, Bilder und Simulacra über Nacht und Tag regieren, wo das freie Spiel der Masken und Rollen ohne irgendeine reale, materielle Substanz pausenlos vonstattengeht.4
Doch ein Sturm bewegt sich längst auf diese Stadt zu.
Die Beschaffenheit von Jamesons Postmoderne gibt sich im Alltagsleben New York Citys zu erkennen, wie es in Ben Lerners bemerkenswertem Roman 22:04 geschildert wird. Erdichtung und äußerer Anschein scheinen jeden Schritt des Protagonisten zu lenken. Er arbeitet an der Fälschung einer Korrespondenz mit renommierten Autor:innen. Eine Freundin bittet ihn, Vater ihres Kindes zu werden, jedoch nicht mittels Geschlechtsverkehr. Vielmehr nimmt er den unwegsameren Prozess auf sich, schaut Pornos, masturbiert und händigt sein Sperma zur künstlichen Befruchtung aus. Ihm schwirrt der Kopf aufgrund einer 24-stündigen Installation mit dem Titel The Clock, einer Montage von Clips aus Tausenden von Filmen, kombiniert zu einer durchgehenden Sequenz, sodass der Einschlag des Blitzes, der in Zurück in die Zukunft um 22:04 Uhr in Szene gesetzt wurde, exakt zum Zeitpunkt der Echtzeit des Publikums abgespielt wird, und immer so weiter, durch Nacht