Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt - Jesmyn Ward


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Joseph«, sage ich. Als ich das sage, würde ich am liebsten rausgucken, über meine Schulter auf den hellen grünen Tag draußen, aber ich zwinge mich, den Blick auf Pop zu richten, auf den Bock, dem zum Sterben der Hals gestreckt wird. Pop schnaubt verächtlich. Ich wollte den Namen eigentlich gar nicht aussprechen. Big Joseph ist mein Weißer Opa, Pop mein Schwarzer. Ich wohne seit meiner Geburt bei Pop; meinen Weißen Opa hab ich zwei Mal gesehen. Big Joseph ist rund und groß und sieht ganz anders aus als Pop. Er sieht noch nicht mal so aus wie Michael, mein Vater, der schlank ist und überall Tattoos hat. Die hat er sich als Andenken bei Möchtegern-Künstlern machen lassen, in Bois und draußen auf dem Wasser, als er offshore gearbeitet hat, und im Gefängnis.

      »Na also«, sagt Pop.

      Pop ringt mit dem Bock wie mit einem Mann, und der Bock knickt ein. Er fällt vorwärts in den Sand und dreht den Kopf zur Seite, sodass er mich anguckt und mit der Wange über die schmutzige Erde und den blutbefleckten Schuppenboden schabt. Er zeigt mir sein sanftes Auge, aber ich gucke trotzdem nich weg, zucke mit keiner Wimper. Pop macht den Schnitt. Der Bock gibt einen überraschten Laut von sich, ein Blöken, das von einem Gurgeln erstickt wird, und dann ist überall Blut und Schlamm. Die Beine des Tiers werden schlapp wie Gummi, und Pop kämpft nicht mehr. Mit einer schnellen Bewegung steht er auf, bindet die Fesseln mit einem Strick zusammen und zieht dann den Tierkörper hoch zu einem Haken, der am Dachsparren hängt. Das Auge: noch feucht. Es schaut mich an, als wäre ich derjenige, der ihm die Kehle aufgeschlitzt hat, als wäre ich derjenige, der ihn ausbluten lässt, bis sein Gesicht ganz rot und blutdurchtränkt ist.

      »Könn’ wir?«, fragt Pop. Dann schaut er mich kurz an. Ich nicke. Meine Stirn schlägt Falten, mein Gesicht ist verkrampft. Ich versuche, mich zu entspannen, während Pop an den Beinen entlangschneidet, dem Ziegenbock Hosennähte verpasst, Hemdnähte, Schlitze überall.

      »Hier festhalten«, sagt Pop. Er zeigt auf einen Schlitz am Bauch des Tiers, also greife ich mit den Fingern hinein und packe zu. Es ist noch warm, und nass. Bloss nicht abrutschen, ermahne ich mich. Nicht loslassen.

      »Jetzt ziehen«, sagt Pop.

      Ich ziehe. Die Ziege wird von innen nach außen gekehrt. Schleim und Gestank überall, irgendwas riecht muffig und beißend, wie ein Mann, der tagelang nicht geduscht hat. Das Fell lässt sich abschälen wie eine Bananenschale. Ich staune jedes Mal, wie leicht es abgeht, sobald man nur dran zieht. Pop zieht kräftig auf der anderen Seite, und dann schneidet und reißt er das Fell an den Hufen ab. Ich ziehe die Haut auf meiner Seite über das Tierbein bis zum Fuß, kriege sie aber nicht so gut ab wie Pop, deshalb übernimmt er das Abschneiden und Abreißen.

      »Andere Hälfte«, sagt Pop. Ich greife in den Schlitz in der Nähe des Herzens. Dort ist die Ziege sogar noch wärmer, und ich frage mich, ob ihr Herz in der Panik so schnell geschlagen hat, dass die Brust ganz heiß geworden ist, aber dann schaue ich zu Pop, der schon dabei ist, die Haut am Fuß abzutrennen, und merke, dass ich durch das Grübeln langsam geworden bin. Ich will nicht, dass er mein Trödeln für Angst hält oder für Schwäche, so als wär ich nich alt genug, um dem Tod ins Gesicht zu sehen wie ein Mann, also packe ich zu und ziehe mit Wucht. Pop trennt das Fell am Fuß ab, und dann baumelt das Tier von der Decke und besteht nur noch aus rosa Muskeln, die das bisschen Licht, das in den Schuppen fällt, einfangen und im Dunkeln glänzen. Von der Ziege ist nur noch das haarige Gesicht übrig, und irgendwie ist dieser Anblick noch schlimmer als der Moment, bevor Pop ihr die Kehle durchgeschnitten hat.

      »Hol den Eimer«, sagt Pop, also hole ich den Metallbottich vom Regal hinten im Schuppen und schiebe ihn unter das Tier. Ich hebe das Fell, das schon anfängt, steif zu werden, auf und stopfe es in den Bottich. Alle vier Stücke.

      Pop macht einen Schnitt in der Bauchmitte, die Eingeweide rutschen raus und fallen in den Bottich. Während er weiterschneidet, stinkt es überwältigend, schlimmer als Schweinekot im Gesicht. Es riecht wie tote Tiere, die tief im Wald verwesen und auf die nur dieser Gestank und die kreisenden, hinabstürzenden Bussarde hinweisen. Es stinkt wie platt gefahrene Opossums oder Gürteltiere, die auf dem heißen Asphalt vor sich hin faulen. Nur schlimmer. Dieser Geruch ist noch schlimmer; es ist der Todesgestank von etwas, das bis gerade lebendig war, das noch heiß ist von Blut und Leben. Ich schneide eine Grimasse, würde am liebsten Kaylas Stinkgesicht machen, das sie immer macht, wenn sie sauer oder ungeduldig ist. Für andere sieht es aus, als hätte sie was Ekliges gerochen: Sie kneift ihre grünen Augen zusammen, rümpft die Nase zu einem Pilz, zeigt alle zwölf winzigen Milchzähne. So ein Gesicht möchte ich ziehen, weil ich durch die gekräuselte Nase vielleicht den Geruch wieder rausquetschen oder abmildern könnte, den Todesgestank vielleicht sogar ganz aussperren könnte. Ich weiß, dass es der Magen und die Gedärme sind, aber ich sehe bloß Kaylas Stinkgesicht vor mir und das sanfte Auge des Ziegenbocks, und dann kann ich nicht mehr hinschauen, kann nicht mehr an mich halten, dann bin ich raus durch die Schuppentür und übergebe mich ins Gras. Mein Gesicht brennt heiß, aber meine Arme sind kalt.

      Pop kommt mit einem Rippenstück in der Hand aus dem Schuppen. Ich wisch mir den Mund ab und schau ihn an, aber er schaut nicht zu mir, sondern in Richtung Haus und weist mit einem Nicken dorthin.

      »Ich glaub, ich hab das Baby weinen hören. Du solltest mal nach den beiden sehen.«

      Ich stecke die Hände in die Hosentaschen.

      »Brauchst du mich denn nich mehr?«

      Pop schüttelt den Kopf.

      »Ich komm jetzt klar«, sagt er, aber dann schaut er mich zum ersten Mal richtig an, und sein Blick ist nicht mehr streng. »Geh du schon mal rein.« Und er dreht sich um und geht zurück in den Schuppen.

      Pop muss sich verhört haben, denn Kayla ist noch gar nich wach. Sie liegt in ihrer Unterhose und ihrem gelbem T-Shirt auf dem Boden, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme ausgebreitet, als ob sie die Luft umarmen will, die Beine gespreizt. Auf ihrem Knie sitzt eine Fliege; ich verjage sie und hoffe, sie hat nicht die ganze Zeit, als ich mit Pop im Schuppen war, auf Kayla draufgesessen. Fliegen fressen Aas. Als ich noch kleiner war, als ich Leonie noch Mama genannt hab, hat sie mir erzählt, dass Fliegen einen vollscheißen, wenn sie auf einem landen. Das war, als es noch mehr Gutes als Schlechtes gab, als Leonie mich auf der Schaukel, die Pop an einem der Pekannussbäume im Vorgarten aufgehängt hatte, angeschubst hat oder neben mir auf dem Sofa saß, mit mir Fernsehen guckte und mir dabei über den Kopf strich. Bevor sie mehr weg war als da. Bevor sie anfing, zerdrückte Tabletten zu schniefen. Bevor die Gemeinheiten, die sie zu mir gesagt hat, sich immer mehr aufgehäuft haben und sich wie Splitt in einem aufgeschürften Knie festgesetzt haben. Damals hab ich Michael noch Pop genannt. Das war, als er bei uns gewohnt hat, bevor er wieder bei Big Joseph eingezogen ist. Bevor die Polizei ihn vor drei Jahren abgeholt hat, kurz vor Kaylas Geburt.

      Jedes Mal, wenn Leonie was Gemeines zu mir gesagt hat, hat Mam ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich hab doch nur Spaß gemacht, meinte Leonie dann, lächelte jedes Mal ganz breit und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um ihr kurzes, gesträhntes Haar glattzustreichen. Ich wähle Farben, die meiner Haut schmeicheln, hat sie Mam erklärt. Die dieses Schwarz zur Geltung bringen. Und dann: Michael steht total drauf.

      Ich ziehe die Decke hoch, bis über Kaylas Bauch, und leg mich neben sie auf den Fußboden. Ihr kleiner Fuß fühlt sich in meiner Hand warm an. Im Schlaf strampelt sie die Decke wieder ab, greift nach meinem Arm und zieht ihn auf ihren Bauch, sodass ich sie umarme, ehe ich wieder still liege. Ihr Mund geht auf, ich wedele die freche Fliege weg, und Kayla lässt einen kleinen Schnarcher los.

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      Als ich wieder raus in den Schuppen gehe, hat Pop schon sauber gemacht. Er hat die stinkenden Eingeweide im Wald vergraben, das Fleisch, das wir Monate später essen werden, in Plastik eingepackt und in den kleinen Gefrierschrank in der Ecke gelegt. Er macht die Schuppentür zu, und als wir an den Ställen vorbeigehen, weicht mein Blick ganz von alleine den Ziegen aus, die an den Holzzaun kommen und blöken. Ich weiß, sie fragen nach ihrem Freund, dem, den ich mit getötet habe. Dem, von dem Pop ein paar Stücke bei sich hat: die zarte Leber für Mam, die er nur kurz anbraten wird, gerade so lange, dass Mam das


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