Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt - Jesmyn Ward


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räuchern und grillen wird, um meinen Geburtstag zu feiern. Ein paar der Ziegen wenden sich ab und grasen.

      Zwei Böcke schliddern ineinander, dann versetzt einer dem anderen einen Kopfstoß, und sie fangen an zu kämpfen. Als einer weghumpelt und der Sieger, der ein schmutzig-weißes Fell hat, sich über eine kleine graue Ziege hermacht und versucht, sie zu besteigen, ziehe ich meine Hände in die Ärmel. Die Ziege tritt nach dem Bock und blökt. Pop bleibt neben mir stehen und schwenkt das frische Fleisch durch die Luft, um die Fliegen zu verjagen. Der Bock beißt der Ziege ins Ohr, die Ziege macht einen Laut, der wie ein Knurren klingt, und schnappt zurück.

      »Ist es immer so?«, frage ich Pop. Ich hab schon gesehen, wie Pferde sich aufbäumen und besteigen, wie brünstige Schweine sich im Schlamm bespringen, gehört, wie wilde Katzen nachts schreien und fauchen, wenn sie Katzenbabys machen.

      Pop schüttelt den Kopf und hebt die ausgesuchten Fleischstücke in meine Richtung hoch. Er lächelt halb, der Mundwinkel, der ein paar Zähne entblößt, wird messerscharf, dann ist das Lächeln wieder verschwunden.

      »Nein«, sagt er. »Nicht immer. Manchmal ist es auch das hier.«

      Die Ziege versetzt dem Bock einen Stoß in den Nacken und schreit. Der Bock schliddert rückwärts. Ich glaube Pop. Wirklich. Ich seh ihn ja mit Mam. Aber ich seh auch Leonie und Michael, so klar und deutlich, als stünden sie hier vor mir, bei ihrem letzten großen Streit, bevor Michael uns verlassen hat und wieder zu Big Joseph gezogen ist, vor drei Jahren, kurz bevor er ins Gefängnis kam: Michael hat damals seine Pullover, seine Camouflage-Hosen und seine Jordans in große schwarze Müllsäcke gestopft und alles nach draußen geschleppt. Ehe er wegging, hat er mich umarmt, und von so nah konnte ich nur seine Augen sehen, die grün waren wie die Kiefern, und die roten Flecken, die auf seinem Gesicht erschienen: an den Wangen, um den Mund herum, an den Nasenflügeln, wo die Adern unter der Haut kleine lila Strahlen waren. Er legte die Arme um mich und tätschelte mir ein, zwei Mal den Rücken, aber seine Berührungen waren so leicht, dass es sich gar nicht wie eine Umarmung anfühlte, obwohl sein Gesicht total angespannt aussah, irgendwie komisch, so als hätte er überall Klebeband unter der Haut. Als würde er gleich anfangen zu weinen. Leonie war schwanger mit Kayla, und sie hatte schon Kaylas Namen ausgesucht und mit Nagellack auf den Autositz geschrieben, der früher mein Autositz gewesen war. Ihr Bauch wurde langsam größer; es sah aus, als hätte sie sich einen Kinder-Basketball unter ihr T-Shirt geschoben. Sie lief hinter Michael her nach draußen auf die Veranda, wo ich stand und immer noch die beiden kleinen Klapse auf meinem Rücken spürte, so sanft wie eine schwache Brise, und Leonie packte Michael von hinten am Kragen, zog ihn zu sich und versetzte ihm einen Schlag an den Kopf, der so laut schallte, dass es nass klang. Er drehte sich um, packte sie am Arm, und dann schrien und keuchten und schubsten und zerrten die beiden sich gegenseitig über die ganze Veranda. Sie waren so dicht zusammen, an Hüften, Brust und Gesicht, dass sie eins waren und sich trippelnd fortbewegten, wie ein Einsiedlerkrebs, der unbeholfen über den Sand hoppelt. Dann schoben sie sich noch dichter aneinander und sagten etwas, aber ihre Worte klangen wie Stöhnen.

      »Ich weiß«, sagte Michael.

      »Du weißt überhaupt nichts«, sagte Leonie.

      »Wieso drängst du mich so?«

      »Mach doch, was du willst«, sagte Leonie, und dann weinte sie, und die beiden küssten sich und lösten sich erst voneinander, als Big Joseph in die sandige Auffahrt gefahren kam und anhielt, sodass sein Lieferwagen nicht mehr auf der Straße, sondern gerade so auf dem Hof stand. Er hupte nicht und winkte nicht und gar nichts, er saß einfach nur da und wartete auf Michael. Und dann ließ Leonie Michael stehen, knallte die Tür und war wieder im Haus verschwunden, und Michael schaute nach unten auf seine Füße. Er hatte vergessen, Schuhe anzuziehen, und seine Zehen waren ganz rot. Er holte einmal tief Luft und griff dann nach seinem Gepäck. Dabei kamen die Tattoos auf seinem weißen Rücken in Bewegung: der Drache auf seiner Schulter, die Sense am Oberarm. Ein grimmiger Sensenmann zwischen den Schulterblättern. Mein Name, Joseph, am Nackenansatz, zwischen Umrissen von meinen Babyfüßen.

      »Ich komme wieder«, sagte er, sprang kopfschüttelnd von der Veranda, warf sich die Müllsäcke über die Schulter und ging zu dem Lieferwagen, in dem sein Daddy, Big Joseph, der Typ, der nie, kein Mal, laut meinen Namen gesagt hat, wartete. Ein Teil von mir hätte ihn am liebsten ausgepfiffen, als er in der Auffahrt zurücksetzte, aber ein größerer Teil von mir hatte Angst, Michael könnte noch einmal aus dem Wagen springen und mich verprügeln, deshalb ließ ich es bleiben. Damals war mir noch nicht klar, dass Michael manchmal alles mitkriegte und manchmal nichts, dass er mich mal wahrnahm, und dann wieder tage- oder wochenlang nicht. Dass ich in dem Moment keine Rolle spielte. Michael hatte sich nicht mehr umgedreht, nachdem er von der Veranda gesprungen war, hatte noch nicht mal hochgeguckt, nachdem er seine Säcke auf die Ladefläche des Pick-ups geworfen hatte und vorne eingestiegen war. Er schien sich immer noch auf seine nackten roten Füße zu konzentrieren. Pop sagt, ein Mann soll einem anderen Mann in die Augen sehen, also stand ich da und schaute Big Joseph an, während er den Rückwärtsgang einlegte, und Michael, der nur auf seinen Schoß guckte, bis sie von der Auffahrt runter waren und davonfuhren. Dann spuckte ich aus, so wie Pop es macht, sprang von der Veranda und rannte ums Haus rum zu den Tieren, zu ihren geheimen Ställen hinten im Wald.

      »Na komm, Junge«, sagt Pop. Als er in Richtung Haus losgeht, folge ich ihm und versuche, die Erinnerung an Leonies und Michaels Streit abzuschütteln, sie in der feuchten, kühlen Luft draußen hängen zu lassen wie einen Nebel. Doch sie verfolgt mich, sogar noch, als ich der warmen, weichen Blutspur folge, die Pop im Sand hinterlässt, einer Spur, die ebenso eindeutig von Liebe zeugt wie die Brotkrumen, die Hänsel im Wald fallen ließ.

      Der Geruch der Leber in der heißen Pfanne sitzt schwer in meiner Kehle, trotz des Bacon-Fetts, mit dem Pop sie vorher beträufelt hat. Als Pop sie auf den Teller schiebt, riecht die Leber immer noch, aber die Soße, die er dazu gemacht hat, verläuft um sie herum zu einem kleinen Herz, und ich frage mich, ob das wohl Absicht war. Ich trage den Teller bis an Mams Türschwelle, aber Mam schläft noch, also bringe ich ihn zurück in die Küche, und Pop legt ein Papiertuch drüber, um das Essen warm zu halten, und dann schaue ich zu, wie er das Fleisch und die Gewürze, Knoblauch, Sellerie, Paprikaschoten und Zwiebeln, von denen mir die Augen tränen, schneidet und alles zum Kochen aufsetzt.

      Wären Mam und Pop am Tag von Leonies und Michaels Streit zu Hause gewesen, hätten sie die Rauferei gestoppt. Der Junge braucht das nicht mitanzusehen, hätte Pop gesagt. Oder Mam hätte gesagt, Euer Kind soll doch nicht denken, dass man andere Menschen so behandelt. Aber sie waren nicht zu Hause. Ich kann nicht behaupten, dass das oft vorkam. Sie waren nicht da, weil sie erfahren hatten, dass Mam Krebs hatte, und Pop deshalb immer wieder mit ihr zum Arzt fuhr. Soweit ich mich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie sich darauf verließen, dass Leonie auf mich aufpasste. Nachdem Michael mit Big Joseph weggefahren war, fühlte es sich äußerst seltsam an, Leonie am Tisch gegenüberzusitzen und mir ein Bratkartoffelsandwich zu machen, während sie ins Leere starrte, die Beine übereinanderschlug, mit dem Fuß wippte und Zigarettenrauch zwischen ihren Lippen hervorquellen ließ, bis er ihren Kopf wie einen Schleier umhüllte, obwohl Mam und Pop es nicht leiden konnten, wenn sie im Haus rauchte. Mit ihr allein zu sein. Sie aschte in eine leere Coladose, die sie gerade ausgetrunken hatte, und machte auch die Kippen darin aus, und als ich in mein Sandwich biss, sagte sie: »Das sieht ja eklig aus.«

      Nach dem Streit mit Michael hatte sie sich die Tränen abgewischt, aber man konnte noch die getrockneten, glänzenden Spuren in ihrem Gesicht sehen.

      »Pop isst das auch immer so.«

      »Musst du Pop alles nachmachen?«

      Ich schüttelte den Kopf, weil sie das zu erwarten schien. Aber die meisten Sachen, die Pop tat, fand ich richtig gut, zum Beispiel die Art, wie er dastand, wenn er redete, die Art, wie er sein Haar kämmte, aus dem Gesicht raus nach hinten, und es mit Gel glatt strich, sodass er wie einer der Choctaw- oder Muskogee-Indianer aus den Büchern aussah, die wir in der Schule lasen, oder dass er mich im Traktor auf seinem Schoß sitzen und hinten auf unserem Grundstück rumfahren ließ, oder seine Art, schnell und sauber zu essen, und natürlich die Geschichten, die er mir vor dem Einschlafen erzählte. Als ich neun war, machte Pop einfach alles richtig


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