Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt - Jesmyn Ward


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sagt Leonie, als wär ich zu blöd, um zu wissen, was in der Schachtel ist. Sie weiß, dass ich nicht dumm bin. Das hat sie selbst mal gesagt, als eine Lehrerin sie in die Schule bestellt hatte, um über mein Verhalten zu sprechen, um Leonie zu sagen: Er sagt im Unterricht kein Wort, aber trotzdem passt er nicht auf. Die Lehrerin sagte das vor allen anderen Kindern, die noch auf ihren Stühlen saßen und darauf warteten, entlassen zu werden und zu ihren Bussen gehen zu dürfen. Sie hatte mich an den vordersten Tisch im Klassenzimmer gesetzt, dem, der am nächsten am Lehrertisch stand, und alle fünf Minuten fragte sie mich, Passt du auch auf?, sodass ich andauernd beim Lernen unterbrochen wurde und mich überhaupt nicht konzentrieren konnte. Da war ich zehn und hatte schon angefangen, Sachen zu sehen, die andere Kinder nicht sahen, zum Beispiel, dass meine Lehrerin ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abkaute, dass sie manchmal besonders viel Make-up trug, um die Spuren von Schlägen zu vertuschen; ich wusste, wie das aussah, weil die Gesichter von Michael und von Leonie manchmal auch so aussahen, wenn sie sich gestritten hatten. Ich fragte mich, ob meine Lehrerin wohl auch einen Michael zu Hause hatte. Am Tag dieses Gesprächs zischte Leonie: Er’s nich dumm. Los, Jojo, wir gehn. Ich zuckte zusammen wegen ihrer schlampigen Aussprache und weil sie sich, ohne es überhaupt zu merken, viel zu dicht zu der Lehrerin hinbeugte, sodass die blinzelnd zurückwich vor der latenten Gewalt in Leonies Arm, die sich von der Schulter durch den Ellbogen bis in ihre Faust schlängelte.

      Mam hat mir zum Geburtstag immer Red Velvet Cake gemacht. Sie fing damit an, als ich eins wurde. Als ich vier war, kannte ich den Kuchen schon gut genug, um darum zu bitten: Ich sagte roter Kuchen und zeigte im Laden auf die Packung im Regal. Der Kuchen, den Leonie gekauft hat, ist klein, ungefähr so groß wie meine beiden Fäuste zusammen. Obendrauf sind hellblaue und hellrosa Streusel verteilt und an der Seite zwei kleine blaue Schuhe. Leonie schnieft, hustet in ihren knochigen Unterarm und zieht dann eine Packung der billigsten Eiscreme aus der Tüte, die Sorte, die wie kaltes Kaugummi schmeckt.

      »Geburtstagskuchen warn ausverkauft. Die Schuhe sind blau, das passt doch.«

      Erst als sie es sagt, wird mir klar, dass Leonie ihrem dreizehnjährigen Sohn einen Babyparty-Kuchen gekauft hat. Ich lache, aber es fühlt sich kein bisschen warm an, in mir ist dabei überhaupt keine Freude. Ein Lachen, das kein Lachen ist und so rau klingt, dass Kayla sich im Zimmer umschaut und mich dann anguckt, als hätte ich sie verraten. Sie fängt an zu weinen.

      Normalerweise mag ich an meinem Geburtstag das Singen am liebsten, weil die Kerzen alles in goldenes Licht tauchen und auf Mams und Pops Gesichter scheinen, sodass sie genauso jung aussehen wie Leonie und Michael. Wenn sie für mich singen, lächeln sie immer. Ich glaube, Kayla findet das Singen auch am schönsten, denn sie singt abgehackt mit. Kayla will unbedingt auf meinem Arm sein; sie hat so lange geweint und sich von Leonies Schulter abgestoßen und die Arme nach mir ausgestreckt, bis Leonie sie mir genervt hingehalten und »Hier« gesagt hat. Doch dieses Jahr ist das Lied für mich nicht das Schönste am Geburtstag, denn statt in der Küche sind wir alle dicht gedrängt in Mams Zimmer versammelt, und Leonie hält den Kuchen so, wie sie vorher Kayla gehalten hat, weit von sich, als wollte sie ihn gleich fallen lassen. Mam ist wach, sieht aber irgendwie nicht wach aus, ihre Augen sind nur halb offen und schauen einfach durch mich und Leonie und Kayla und Pop hindurch. Obwohl Mam schwitzt, wirkt ihre Haut blass und trocken, wie eine Schlammpfütze, die im Sommer nach mehreren Wochen ohne Regen zu einem Nichts getrocknet ist. Und eine Mücke sirrt um meinen Kopf, steuert auf mein Ohr zu, dreht wieder ab, droht mich zu stechen.

      Als das Happy-Birthday-Lied losgeht, hört man nur Leonie. Sie hat eine hübsche Stimme, eine, die an den tiefen Stellen sehr schön klingt, sich bei den hohen Tönen aber überschlägt. Pop singt nicht mit; er singt nie. Als ich kleiner war, hab ich das nicht gemerkt, weil da noch die ganze Familie für mich gesungen hat: Mam, Leonie und Michael. Aber dieses Jahr, wo Mam nicht singen kann, weil sie zu krank ist, und Kayla zur Melodie einen Text erfindet und Michael weg ist, merke ich gleich, dass Pop nicht mitsingt, denn er bewegt nur die Lippen, ohne dass ein Ton herauskommt. Leonies Stimme überschlägt sich bei »lieber Joseph«, und das Licht der dreizehn Kerzen ist orangefarben. Niemand außer Kayla sieht jung aus. Pop steht zu weit vom Licht weg. Mams Augen in ihrem kalkbleichen Gesicht sind jetzt zu Schlitzen geschlossen, und Leonies Zähne sehen an den Rändern schwarz aus. Hier ist von Glück keine Spur.

      »Herzlichen Glückwunsch, Jojo«, sagt Pop, aber er schaut mich dabei nicht an. Er schaut Mam an, ihre Hände, die schlapp und offen neben ihrem Körper liegen. Die Handflächen zeigen nach oben, wie tot. Ich beuge mich nach vorne, um meine Kerzen auszupusten, aber da klingelt das Telefon, und Leonie macht einen Satz; also macht auch der Kuchen einen Satz. Die Flammen flackern unter meinem Kinn und werden heißer. Wachsperlen tropfen auf die Babyschuhe. Leonie wendet sich mitsamt dem Kuchen von mir ab und schaut in die Küche, auf das Telefon, das auf der Anrichte steht.

      »Lässt du jetzt den Jungen seine Kerzen ausblasen, Leonie?«, fragt Pop.

      »Könnte Michael sein«, sagt Leonie, und dann ist der Kuchen nicht mehr da, weil Leonie ihn mit in die Küche genommen und neben dem Telefon mit der schwarzen Schnur abgestellt hat. Die Kerzenflammen fressen das Wachs auf. Kayla kreischt und wirft den Kopf zurück. Also folge ich Leonie in die Küche, zu meinem Kuchen, und Kayla lächelt. Sie greift nach dem Feuer. Die Mücke aus Mams Zimmer ist uns gefolgt und fliegt sirrend um meinen Kopf, spricht über mich, als wäre ich eine Kerze oder ein Kuchen. Mhm, schön warm und köstlich. Ich schlage sie weg.

      »Hallo?«, sagt Leonie.

      Ich halte Kaylas Arm fest und beuge mich zu den Flammen hinunter. Sie wehrt sich, sie ist fasziniert.

      »Ja.«

      Ich puste.

      »Baby.«

      Die Hälfte der Kerzen geht aus.

      »Diese Woche?«

      Die andere Hälfte zehrt das Wachs fast bis unten auf.

      »Ganz sicher?«

      Ich puste noch einmal, und der Kuchen wird dunkel. Die Mücke landet auf meinem Kopf. So lecker, sagt sie und sticht. Ich schlage zu, und dann ist meine Handfläche blutverschmiert. Kayla streckt einen Arm aus.

      »Wir kommen natürlich.«

      Kayla hat eine Handvoll Glasur erwischt, und ihre Nase läuft. Ihre blonden Afrolocken stehen hoch. Sie steckt die Finger in den Mund, und ich wische ihr das Gesicht ab.

      »Schon gut, Baby, schon gut.«

      Michael ist ein Tier am anderen Ende der Telefonleitung, hinter einer Festung aus Beton und Gitterstäben, seine Stimme reist kilometerweit durch Kabel und über sonnengebleichte Strommasten. Ich weiß, was er sagt, genau wie bei den Vögeln, die ich im Winter auf dem Weg nach Süden schreien höre, genau wie bei jedem anderen Tier. Ich komme nach Hause.

       2. Kapitel

      LEONIE

      GESTERN ABEND, nachdem ich mit Michael telefoniert hatte, rief ich Gloria an und bekam noch eine Schicht. Gloria ist die Besitzerin der Country-Bar oben am Waldrand, wo ich arbeite. Ein abgelegener Schuppen, aus Tuftsteinen und Sperrholz zusammengehauen und grün gestrichen. Ich hab den Laden zum ersten Mal gesehen, als ich mit Michael einen Ausflug an den Fluss machte; wir parkten meist unter einer Brücke an der Straße, die über den Fluss führt, und gingen dann zu Fuß weiter, bis wir zu einer Stelle kamen, wo man gut baden kann. Was ist das denn?, fragte ich und zeigte darauf. Ich dachte, ein Wohnhaus kann es kaum sein, obwohl es geschützt unter den Bäumen lag. Zu viele Autos parkten auf der sandigen Grasfläche davor. Das ist das Cold Drink, sagte Michael; er roch nach Hartbirnen, und seine Augen waren so grün wie die Bäume. Wie Barq’s und Coke?, fragte ich. Jap. Er sagte, seine Mama sei mit der Besitzerin zusammen zur Schule gegangen. Jahre später, als Michael schon im Gefängnis war, habe ich seine Mama angerufen, und Gott sei Dank ging sie ans Telefon und nicht Big Joseph. Er hätte gleich wieder aufgelegt, statt mit mir zu sprechen, der Niggerin, mit der sein Sohn Kinder hatte. Ich erzählte Michaels Mutter, dass ich Arbeit brauchte, und bat sie, bei der Besitzerin ein gutes Wort für mich einzulegen. Es war unser viertes Gespräch überhaupt. Zum ersten Mal haben wir miteinander


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