Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward
Michaela geboren wurde. Trotzdem sagte sie Ja, und dann sagte sie, ich solle hinfahren, hoch zum Kill, dahin, wo Michael und seine Eltern herkommen und wo die Bar ist, und mich bei Gloria vorstellen, also machte ich das. Gloria stellte mich zuerst für eine Probezeit von drei Monaten ein. Du bist fleißig, sagte sie lachend, als sie mir mitteilte, dass sie mich behalten würde. Sie trug dicken Lidstrich, und wenn sie lachte, sah die Haut um ihre Augenwinkel wie ein kunstvoll gearbeiteter Fächer aus. Sogar fleißiger als Misty, sagte sie, und die wohnt schon fast hier. Und dann wedelte sie mit dem Arm und schickte mich wieder nach vorne in die Bar. Ich nahm mein Tablett mit den Drinks, und aus drei Monaten wurden drei Jahre. Nach meinem zweiten Tag im Cold Drink hatte ich kapiert, warum Misty so viel arbeitete: Sie war jeden Abend auf Droge. Lortab, Oxycodon, Koks, Ecstasy, Crystal Meth.
Als ich gestern Abend im Cold Drink zur Arbeit erschien, muss Misty schon einiges intus gehabt haben, denn nachdem wir gefegt und gewischt und alles dicht gemacht hatten, sind wir noch in ihr rosa MEMA-Häuschen gegangen, in dem sie seit Hurricane Katrina wohnt, und sie hat einen Eightball herausgeholt.
»Er kommt also nach Hause?«, fragte Misty. Misty war dabei, alle Fenster aufzumachen. Sie weiß, ich höre gern die Geräusche von draußen, wenn ich high bin. Ich weiß, sie kokst nicht gern alleine, deshalb hat sie mich eingeladen und deshalb öffnete sie die Fenster, obwohl die feuchte Frühjahrsnachtluft sich im Haus breitmacht wie Nebel.
»Jap.«
»Du bist bestimmt total froh.«
Das letzte Fenster ging hoch und rastete ein, und ich starrte hinaus, während Misty sich an den Tisch setzte und mit dem Zerkleinern und Teilen anfing. Ich zuckte die Achseln. Ich war überglücklich gewesen, als der Anruf kam, als ich Michaels Stimme Worte sagen hörte, die ich mir monatelang, jahrelang, erträumt hatte, so glücklich, dass sich mein Innerstes anfühlte wie ein Teich, in dem es von Tausenden Kaulquappen wimmelt. Aber dann, kurz bevor ich aus dem Haus ging, schaute Jojo, der mit Pop im Wohnzimmer saß und eine Jagdsendung guckte, zu mir hoch, und für den Bruchteil einer Sekunde sah sein Gesicht, die Art, wie seine Züge sich in Falten legten, genauso aus wie Michaels nach einem unserer schlimmsten Streits. Enttäuscht. Todtraurig, weil ich wegging. Und ich konnte dieses Bild nicht abschütteln. Es tauchte während der gesamten Schicht immer wieder vor mir auf, setzte mir so sehr zu, dass ich Bud Light statt Budweiser oder Michelob statt Coors zapfte. Und dann ging mir Jojos Gesichtsausdruck nicht mehr aus dem Sinn, weil ich wusste, dass er insgeheim hoffte, ich würde ihn mit einem Geschenk überraschen, mit etwas anderem als diesem hastig gekauften Kuchen, irgendeinem Ding, das nicht nach drei Tagen weg sein würde: einem Basketball, einem Buch, einem Paar High Tops von Nike, damit er endlich ein zweites Paar Schuhe besaß.
Ich beugte mich zum Tisch hinunter. Schnupfte. Ein scharfes Brennen fuhr mir bis in die Knochen, und dann vergaß ich. Die Schuhe, die ich nicht gekauft hatte, den wachsbekleckerten Kuchen, den Anruf. Das Kleinkind, das zu Hause in meinem Bett schlief, während mein Sohn auf dem Fußboden lag, nur für den Fall, dass ich nach Hause kommen und ihn aus dem Bett werfen würde, wenn ich ins Zimmer wankte. Scheiß drauf!
»Überglücklich.« Ich sagte das Wort ganz langsam. Zog jede Silbe in die Länge. Und plötzlich war Given wieder da.
Die Kinder in der Schule zogen Given wegen seinem Namen auf. Eines Tages geriet er deswegen im Schulbus in einen Streit, prügelte sich auf den Sitzen mit einem stämmigen rothaarigen Jungen in Camouflage-Klamotten. Frustriert und mit einer dicken Lippe kam er nach Hause und fragte Mama: Wieso habt ihr mir diesen Namen gegeben? Given? Der hat überhaupt keinen Sinn. Geschenkt, was soll das denn heißen? Und Mama hockte sich vor ihn hin, strich ihm über die Ohren und sagte: Given, weil sich das auf den Namen deines Papas reimt: River. Und Given weil ich schon vierzig war, als ich dich bekommen habe. Dein Papa war fünfzig. Wir dachten, wir könnten keine Kinder bekommen, aber dann wurdest du uns geschenkt: also Given. Er war drei Jahre älter als ich, und als er und der Camouflage-Junge sich raufend über die Sitzreihen wälzten, holte ich mit meiner Schultasche aus und traf Camo am Hinterkopf.
Gestern Abend hat er mich angelächelt, dieser Given-nicht-Given, dieser Given, der jetzt schon fünfzehn Jahre tot ist, dieser Given, der jedes Mal auftauchte, wenn ich eine Line zog oder eine Pille einwarf. Jetzt setzte er sich auf einen der leeren Stühle zu uns an den Tisch, beugte sich vor und legte die Ellbogen auf die Tischplatte. Er beobachtete mich, wie immer. Er hatte Mamas Gesicht.
»So sehr, hm?« Misty zog den Schnodder in ihrer Nase hoch.
»Jap.«
Given rieb sich den rasierten Kopf, und ich entdeckte noch mehr Unterschiede zwischen den Lebenden und diesem chemischen Hirngespinst. Given-nicht-Given atmete nicht richtig. Er atmete überhaupt nicht. Sein schwarzes Hemd war ein stiller, von Mücken umschwärmter Teich.
»Und wenn Michael sich verändert hat?«, sagte Misty.
»Hat er nicht«, sagte ich.
Misty warf ein zusammengeknülltes Papiertuch weg, mit dem sie den Tisch abgewischt hatte.
»Was guckst du an?«, fragte sie.
»Nichts.«
»Quatsch.«
»Keiner starrt was so Cleanes so lange an, ohne was anzugucken.« Misty wedelte mit einer Hand in Richtung des Kokains und zwinkerte mir zu. Sie hatte sich die Initialen ihres Freundes auf den Ringfinger tätowieren lassen, und ganz kurz sahen sie wie Buchstaben aus, dann wie Käfer, dann wieder wie Buchstaben. Ihr Freund war schwarz, und diese Liebe über Hautfarbengrenzen hinweg war einer der Gründe, warum aus uns so schnell Freundinnen geworden waren. Misty sagte oft, dass sie beide, soweit es sie betraf, so gut wie verheiratet waren. Sie sagte, sie brauche ihn, weil ihre Mutter sich einen Dreck um sie scherte. Misty hat mir erzählt, dass sie ihre Periode gekriegt hat, als sie in der vierten Klasse war, mit zehn, und weil sie keine Ahnung hatte, was mit ihr los war, während ihr Körper sie verriet, lief sie den halben Tag mit einem blutigen Fleck hinten auf der Hose herum, der sich langsam ausbreitete wie ein Ölteppich. Ihre Mutter schlug auf dem Parkplatz der Schule auf sie ein, so peinlich fand sie das. Der Rektor rief die Polizei. Nur ein Beispiel dafür, wie sehr ich sie enttäuscht habe, sagte Misty.
»Ich wollte es spüren«, sagte ich.
»Weißt du, woran ich erkenne, dass du lügst?«
»Woran denn?«
»Du wirst totenstill. Alle bewegen sich die ganze Zeit, wenn sie sprechen, wenn sie schweigen, sogar im Schlaf. Schaun weg, schaun einen an, lächeln, runzeln die Stirn, sowas alles. Wenn du lügst, bist du totenstill: ausdrucksloses Gesicht, schlaffe Arme. Wie ’ne Leiche, echt. Sowas hab ich noch nicht gesehn.«
Ich zuckte die Achseln. Given-nicht-Given zuckte die Achseln. Sie lügt nicht, sagte er tonlos.
»Siehst du manchmal Sachen?«, fragte ich. Es ist schon raus, ehe ich die Worte denken kann. Aber in dem Moment ist Misty meine beste Freundin. Sie ist meine einzige Freundin.
»Wie meinst du das?«
»Wenn du drauf bist?« Ich wedelte mit der Hand, so wie sie es gerade getan hatte. In Richtung des Koks, das jetzt nur noch ein trauriges kleines Häufchen Staub auf dem Tisch war. Gerade noch genug für zwei oder drei Lines.
»Das ist es also? Du siehst Zeugs?«
»Nur Striche. Wie Neonlicht oder sowas. In der Luft.«
»Guter Versuch. Du hast dir sogar die Mühe gemacht, mit den Händen zu zucken. Also, was siehst du wirklich?«
Ich hätte ihr am liebsten eine geknallt.
»Hab ich doch grad gesagt.«
»Klar, und das war schon wieder gelogen.«
Aber ich wusste, es war ihr Haus, und wenn es hart auf hart kam, dann bin ich Schwarz und sie Weiß, wenn uns also jemand streiten hörte und die Polizei rief, dann wäre ich diejenige, die im Gefängnis landen würde. Nicht sie. Beste Freundin hin oder her.
»Given«, sagte ich. Es war mehr ein Flüstern als sonst irgendwas, und Given beugte sich vor, um zu