Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward
Blut werden. Als könnte er meine Hand ergreifen und mich hier herausbringen. Als könnten wir nach Hause gehen.
Misty sah aus, als hätte sie in etwas Saures gebissen. Sie beugte sich vor und zog noch eine Line.
»Ich bin ja keine Expertin oder so, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man von diesem Zeug hier eigentlich keine Sachen sehen sollte.«
Sie lehnte sich zurück, fasste ihr Haar zu einem dicken Bündel zusammen und warf es über ihre Schulter. Bishop findet meine Haare toll, hatte sie mal über ihren Freund gesagt. Kann die Hände kaum davon lassen. Das war eine von den Sachen, die sie ganz unwillkürlich machte, mit ihrem Haar zu spielen, ohne zu merken, wie ungezwungen es wirkte. Wie ihr Haar das Licht reflektierte. Was für eine selbstzufriedene Schönheit es ausstrahlte. Ich hasste ihr Haar.
»Auf Acid vielleicht«, fuhr sie fort. »Oder Meth. Aber von dem hier? Nie und nimmer.«
Given-not-Given runzelte die Stirn, imitierte ihr mädchenhaftes Spiel mit ihren Haaren und formte mit den Lippen die Worte: Was weiß sie schon? Seine linke Hand lag immer noch auf dem Tisch. Ich konnte nicht danach greifen, obwohl alles in mir sich danach sehnte, seine Haut, sein Fleisch, seine trockenen harten Hände zu spüren. Als wir Kinder waren, hat er unzählige Male im Bus für uns gekämpft, uns in der Schule oder in der Nachbarschaft verteidigt, wenn andere Kinder mich auslachten und behaupteten, Pop sähe aus wie eine Vogelscheuche oder Mama sei eine Hexe. Dass ich genauso aussähe wie Pop: wie ein verbrannter, mit Lumpen umhüllter Stock. Mir drehte sich der Magen um wie ein Tier, das sich vor dem Einschlafen in seinem Bau wälzt, immer wieder, auf der Suche nach Trost und Wärme. Ich steckte mir eine Zigarette an.
»Echt«, sagte ich.
Jojos Geburtstagskuchen hält sich nicht gut: Am nächsten Tag schmeckt er schon, als wäre er fünf Tage alt statt einem. Er schmeckt wie nasse Pappe, aber ich esse trotzdem weiter. Ich kann nicht anders. Meine Zähne kauen und mahlen, obwohl ich nicht genug Spucke habe und meine Kehle sich gegen das Schlucken wehrt. Das Koks hat bewirkt, dass ich seit gestern Abend ununterbrochen kaue. Pop redet mit mir, aber ich kann an nichts anderes denken als an meinen Unterkiefer.
»Du brauchst die Kinder nirgendwohin mitzunehmen«, sagt Pop.
An den meisten Tagen ist Pop ein jüngerer Mann. Genauso wie Jojo für mich an den meisten Tagen immer noch fünf ist. Ich schaue Pop nicht an und sehe, wie die Jahre ihn gebeugt und zerknittert haben: Ich sehe ihn stattdessen mit weißen Zähnen und geradem Rücken und Augen, die so schwarz und glänzend sind wie sein Haar. Ich habe Mama einmal erzählt, dass ich dachte, Pop würde sich das Haar färben, und sie hat die Augen gerollt und gelacht, damals, als sie noch lachen konnte. Ist alles echt, hat sie gesagt. Der Kuchen ist so süß, dass er fast bitter schmeckt.
»Doch«, sage ich.
Ich könnte nur Michaela mitnehmen, das ist mir klar. Es wäre einfacher, aber ich weiß genau, wenn wir vor dem Gefängnis stehen und Michael rauskommt, dann wäre ein Teil von ihm enttäuscht, wenn Jojo nicht dabei wäre. Jojo sieht jetzt schon viel zu sehr so aus wie ich und Pop, mit seiner braunen Haut und den dunklen Augen, mit der Art, wie er geht, wie er auf den Fußballen wippt und alles an ihm aufrecht wirkt. Wenn Jojo nicht mit uns dort stehen und auf Michael warten würde, dann wäre das, na ja, nicht richtig.
»Und was ist mit der Schule?«
»Es sind doch nur zwei Tage, Pop.«
»Schule ist wichtig, Leonie. Der Junge muss was lernen.«
»Er is schlau genug, um zwei Tage zu verpassen.«
Pop verzieht das Gesicht, und solange die Grimasse anhält, sehe ich doch das Alter in seinem Gesicht. Die Falten des Alters, das ihn unerbittlich hinabzieht, genau wie Mama. In die Gebrechlichkeit, die Bettlägerigkeit, auf die Erde, ins Grab. Es geht abwärts.
»Es gefällt mir nicht, dass du ganz allein mit den beiden auf die Straße willst, Leonie.«
»Die Strecke ist nicht kompliziert, Pop. Wir fahren immer nach Norden und dann wieder zurück.«
»Man kann nie wissen.«
Ich presse die Lippen zusammen und spreche durch die Zähne.
Mein Kiefer schmerzt.
»Uns wird nichts passieren.«
Michael ist jetzt drei Jahre im Gefängnis. Drei Jahre und zwei Monate. Und zehn Tage. Er hat fünf Jahre gekriegt, mit der Möglichkeit zur vorzeitigen Entlassung. Aus dieser Möglichkeit ist jetzt Wirklichkeit geworden. Gegenwart. Ich zittere innerlich.
»Alles in Ordnung?«, fragt Pop. Er schaut mich so an, wie er seine Tiere anschaut, wenn etwas mit ihnen nicht stimmt, wie er sein Pferd anschaut, wenn es hinkt und neu beschlagen werden muss, oder wenn eins seiner Hühner sich seltsam und wie toll aufführt. Er erkennt den Defekt und ist fest entschlossen, ihn auszumerzen. Die empfindlichen Hufe des Pferdes zu panzern. Das Huhn zu isolieren. Ihm den Hals umzudrehen.
»Jep«, sage ich. Mein Kopf fühlt sich an wie mit Auspuffgas gefüllt: leicht und heiß. »Alles okay.«
Manchmal glaube ich, ich weiß, warum ich jedes Mal Givennicht-Given sehe, wenn ich high bin. Als ich zum ersten Mal meine Periode hatte, setzte sich Mama mit mir an den Küchentisch, nachdem Pop zur Arbeit gegangen war, und sagte: »Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Was denn?«, sagte ich. Mama sah mich streng an. »Ja Ma’am«, sagte ich da und schluckte meine ursprünglichen Worte hinunter.
»Als ich zwölf war, kam die Hebamme Marie-Therese zu uns nach Hause, um meine jüngste Schwester auf die Welt zu holen. Sie saß kurz in der Küche, wies mich an, Wasser zu kochen, und packte ihre Kräuter aus, und da fing sie an, auf die Bündel zu zeigen und wollte von mir wissen, was ich glaubte, welche Wirkung die verschiedenen getrockneten Pflanzen hatten. Ich sah sie mir an, und ich wusste es, also sagte ich: Das hier hilft bei der Nachgeburt, das hier stillt die Blutung, das wirkt gegen die Schmerzen, und das hier lässt die Milch schneller einschießen. Als würde mir jemand ins Ohr summen und mir verraten, wozu die Kräuter gut waren. Sofort erklärte sie, ich hätte eine besondere Gabe in mir. Während meine Mama nebenan hechelte, legte Marie-Therese ganz in Ruhe ihre Hand auf mein Herz und betete zu den Müttern, zu Mami Wata und zu Maria, der Gottesmutter, dass ich lange genug leben möge, um zu sehen, was ich sehen sollte.«
Mama legte eine Hand auf ihren Mund, als hätte sie etwas erzählt, das sie lieber nicht verraten sollte, so als könnte sie ihre Worte wieder einfangen und in sich aufsaugen, damit sie durch ihre Kehle nach unten rutschten und sich im Magen in nichts auflösten.
»Und?«, fragte ich.
»Ob ich sehe?«
Ich nickte.
»Ja«, sagte Mama.
Ich hätte am liebsten gefragt: Und was siehst du? Aber ich tat es nicht. Ich hielt den Mund und wartete, dass sie weitersprach. Vielleicht hatte ich Angst vor dem, was sie mir erzählen würde, wenn ich fragte, was sie sah, wenn sie mich anschaute. Würde ich jung sterben? Vergeblich nach Liebe suchen? Oder falls ich lange lebte, würde ich von harter Arbeit und einem schweren Leben gebeugt sein? Alt und bitter werden, die Lippen verzerrt vom Geschmack dessen, was mir das Leben aufgetischt hatte: Senfblätter und unreife Kakifrüchte mit dem beißenden Aroma unerfüllter Versprechen und schlimmer Verluste?
»Kann sein, dass du’s auch hast«, sagte Mama.
»Wirklich?«
»Ich glaub, man hat’s im Blut, wie Schlick im Flusswasser. Sammelt sich in den Kurven und Windungen, lagert sich auf versunkenen Baumstämmen ab.« Sie wedelte mit den Fingern. »Kommt im Lauf der Generationen immer wieder an die Oberfläche. Meine Mama nicht, aber ich hab sie mal drüber reden hören, dass Tante Rosalie, ihre Schwester, die Gabe hatte. Dass sie von Schwester zu Kind zu Cousine wandert. Um gesehen zu werden. Und genutzt. Zeigt sich meist so richtig, wenn man zum ersten Mal blutet.«
Mama zupfte mit den Fingernägeln an ihrer Lippe herum und klopfte dann auf den Küchentisch.
»Marie-Therese