Die Wurzeln des guten Geschmacks. Stefano Mancuso
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STEFANO MANCUSO
CARLO PETRINI
Die Wurzeln
des guten
Geschmacks
Warum sich
Köche und Bauern
verbünden müssen
Aus dem Italienischen
von Christine Ammann
Verlag Antje Kunstmann
INHALT
1 Im Jahr 2050 werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben
2 Gastronomie und Pflanzenforschung im Dialog
4 Die Pflanzenwelt: ein gutes Paradigma
5 Nachhaltigkeit: Gebrauch und Missbrauch eines Begriffs
6 Biologische Vielfalt: die wahre Ökologie des Lebens
7 Die Welt gehört den Pflanzen
STEFANO MANCUSO Eine Welt für sich
CARLO PETRINI Die Gastronomie – Genuss im Dienste der Veränderung
Stefano Mancuso und Carlo Petrini trafen sich an der Università di Scienze gastronomiche, der Universität für gastronomische Wissenschaften in Pollenzo, einem Dorf bei Bra in der Provinz Cuneo. Aus dieser Begegnung zweier brillanter, mutiger Köpfe hat sich ein lebhafter, offener Dialog entwickelt.
Der fruchtbare Austausch zwischen der Gastronomie der Befreiung und der Pflanzenbiologie kann zu einer neuen Sicht auf die Welt führen, durch die wir uns von überholten Paradigmen lösen und unsere Nahrung und deren Erzeugung zum Mittelpunkt eines wahrhaft humanitären Projekts machen können.
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Im Jahr 2050 werden
neun Milliarden Menschen
auf der Erde leben
STEFANO MANCUSO: Lass uns mit etwas Einfachem beginnen, zum Aufwärmen … und wie ich das sehe, mit einem der größten Probleme, das die Menschheit in den nächsten Jahren lösen muss. Eigentlich hätte es im Zentrum der Expo 2015 stehen müssen, deren Motto ja hieß »den Planeten ernähren«. Aber offenbar hat sich niemand darüber Gedanken gemacht, was das heißt: nämlich, dass alle genug zu essen haben …
CARLO PETRINI: Du sagst es.
MANCUSO: Wenn man wirklich nach einer Lösung dafür sucht, dann muss man schon im Ansatz davon ausgehen, dass die Ressourcen unseres Planeten endlich sind – und dass jedes System, das auf einen rastlos wachsenden Konsum setzt, unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist. Das sagt einem einfach der gesunde Menschenverstand. Unsere Zukunftsperspektiven, unsere Gesellschaftsordnung und unsere Wirtschaft können nicht länger darauf basieren, dass der Konsum unaufhaltsam steigt. Wenn wir auf der Erde mit ihren endlichen und, so wage ich zu behaupten, zum Teil fast schon erschöpften Ressourcen weiter so konsumieren wie bisher, dann ist das einfach leichtfertig und gedankenlos.
PETRINI: Genau. Wir befinden uns, meine ich, an einem Punkt, wo wir einsehen müssen, dass wir mit dem Paradigma des Konsums, angeblich endloser Ressourcen und damit einer zunehmend intensiveren Nahrungsmittelproduktion nicht nur der Umwelt schaden, sondern auch daran scheitern, das Hungerproblem zu lösen. Und gleichzeitig erleben wir heute eine Lebensmittelverschwendung, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat.
MANCUSO: Das liegt vermutlich an unserer Organisationsform.
PETRINI: Ja, das herrschende Paradigma fordert diese Verschwendung geradezu. Seine Theoretiker behaupten, um das Problem der wachsenden Weltbevölkerung zu lösen, müsse man immer mehr Nahrungsmittel produzieren. Aber wenn die Zahlen, die uns vorliegen, stimmen, dann werden heute ungefähr vierzig Prozent der globalen Produktion verschwendet. Darum ist das das Feld, das wir dringend und zuallererst beackern müssen: Wir müssen die Lebensmittelverschwendung eindämmen. Wir brauchen ein neues Paradigma, das uns unsere Verantwortung vor Augen führt und uns zeigt, dass wir ein anderes Verhältnis zur Natur pflegen und mit unseren Ressourcen besser haushalten müssen: Statt Nahrungsmittel zu verschwenden, müssen wir unter verschiedenen und nicht nur unter Profitgesichtspunkten besser und effizienter produzieren. Der Kern ist doch folgender: Weil wir immer nur damit beschäftigt waren, die Produktion zu steigern, haben wir vergessen, dass die Ressourcen begrenzt sind – und dass wir, wie mein Freund Papst Franziskus sagen würde, eine ethische Verantwortung gegenüber der Schöpfung haben. Es gibt nämlich eine ethische Verantwortung, eine gesunde Beziehung zur Natur, aber die wurde von der rastlosen Gier nach ständig steigenden Produktionsmengen vollkommen an den Rand gedrängt.
Wir befinden uns heute in einer entropischen Krise, die unser Produktionsstil verursacht hat, in einer Krise, die wir nur durch einen Paradigmenwechsel lösen können. Wenn uns das Paradigma befiehlt, angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und wachsender Bedürfnisse immer mehr statt vernünftiger zu produzieren – fast möchte ich sagen, mit mehr Liebe zur Natur und dem, was sie uns bietet –, dann werden wir die Krise nie bewältigen können. Die Antwort kann nicht lauten: immer mehr Wachstum, koste es, was es wolle, wie uns die Wirtschaftswissenschaft sagt. Denn um es auf den Punkt zu bringen, der Kern des Problems ist doch eigentlich, dass auf unserer Welt Armut und Ungerechtigkeit herrschen und es vielen Menschen daher am täglichen Brot fehlt. Darum geht es. Es geht nicht um die Nahrungsmittelmenge, sondern um die Ungerechtigkeit, dass ein riesiger Teil der Weltbevölkerung nicht genug zu essen hat, während die anderen mehr als genug haben und riesige Mengen an Nahrungsmitteln vernichten.
MANCUSO: Da hast du wohl recht. Deshalb habe ich große Sympathie für eine Ethik, die auch das Verhältnis des Menschen zur übrigen Kreatur berücksichtigt. Das ist für mich eine fundamentale Frage, deren Beantwortung wir nicht länger aufschieben können, und in diesem Punkt ist die Umweltenzyklika von Papst Franziskus übrigens sehr interessant. Auch in der Wissenschaft bewegt man sich ja häufig in einer Welt, in der noch ein, sagen wir, eher antiquiertes Menschenbild vorherrscht, das den Menschen als absoluten Herrscher über die Schöpfung sieht. Wir leben heute gewissermaßen in einer Umbruchzeit, die an die kopernikanische Wende erinnert. Kopernikus und Galilei haben uns gezeigt, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern nur der dritte Planet in einem kleinen Sonnensystem, das sich etwas abseits, in einer Randgalaxie des Weltalls befindet. Und es fiel uns nicht leicht, zu akzeptieren, dass unser Platz im Universum in Wahrheit viel unbedeutender ist als gedacht. Ich wünschte mir, wir würden heute eine ähnliche Wende erleben, mit der wir unsere Vorstellung vom Verhältnis des Menschen zu den anderen Lebewesen zurechtrücken. Der Mensch sollte sich nicht mehr als Mittelpunkt der belebten Welt sehen, um den die anderen Lebewesen kreisen, sondern als ein Element im Ökosystem.
Weil wir nämlich nicht wirklich begreifen, welche Rolle wir im Ökosystem spielen, erkennen wir nicht einmal, welche Schäden unsere Art anrichtet. Dabei hat sich unsere Fähigkeit, Schäden zu verursachen, im Lauf der Zeit noch erheblich gesteigert. Allerdings