Synthese. Karoline Georges
Oft, wenn sie in meinem Blickfeld auftaucht, bekomme ich Lust, ihr Gesicht oder ihren Körper zu verändern und suche mir etwas Entsprechendes.
Heute installiere ich meine Mutter im Studio, da habe ich viel zu tun.
Aber erst mal muss ich mich wieder initialisieren.
Ich will eine minimalistische Umgebung schaffen, Anouk ausziehen, ihre derzeitige Haut beibehalten, ihre Augen und sogar das Tattoo, das seit einer Woche ihre Schulterblätter ziert – ein Traumfänger, dessen längste Feder bis zu ihrem Steißbein reicht. Ich werde ihre schwarze Mähne durch einen klassischen Haarknoten ersetzen, vielleicht silbrig getönt. Sie in einer weißen Umgebung installieren, mit nur einer einzigen, strahlenden Lichtquelle. Etwas Schlichtes. Damit ich hoffentlich wieder zur Ruhe komme.
Ich werde alle Modifikatoren auf null stellen, mit denen ihr Gesicht Stimmungswechsel ausdrücken kann. Sie von sämtlichen Emotionen reinigen. Bis auch meine verschwunden sind.
In den letzten Wochen habe ich zu viel Zeit offline verbracht, fern des digitalen Kosmos; ich fing schon an zu ersticken.
Ich muss wieder zum Bild werden, so schnell wie möglich.
Schon vor der Pubertät wurde ich zu dem Bild einer Frau. Mit dreizehn träumte ich längst davon, mich auf Hochglanzpapier zu sehen.
Jede Woche lief ich schnell wie ein Gepard die Treppe zur Wohnung meiner Großeltern hoch, um in den neuesten Ausgaben des Magazine illustré und des Lundi zu stöbern, die meine Großmutter immer auf ihren antiken Tisch mitten in der Küche legte, auf eine Decke aus italienischer Spitze unter einem Kristallleuchter. Bücher gab es bei meinen Altvorderen nicht. Nur die Tittenmagazine meines Großvaters, der ganz offen, in einer Mischung aus Stolz und Schalk, seine Liebe zu Pin-ups bekundete. Es machte ihm Spaß, mir seine aktuelle Flamme zu präsentieren, unübersehbar auf dem Wandkalender neben der Küchenanrichte, ein Kunstwerk in ständiger Erneuerung. Die naiven Blondinen verwandelten sich in dralle Brünette, die im Folgemonat als kokette Rotschöpfe leuchteten, nur um dann wieder zu ihrer meist platinblonden Urform zurückzukehren. Jeden Monat kommentierte mein Großvater den Neuzugang: Guck dir bloß mal diese Kurve an, ein Gedicht, so einen perfekten Schwung des Rückens kriegst du auf der Straße niemals zu sehen, eine Großaufnahme von den Lippen dieser schönen Puppe wäre schon mehr als genug, aber schau dir die Zartheit der Höfe um ihre Brustwarzen an, die machen ihr Porträt vollkommen – das ist der Gipfel der Kunst. Meine Großmutter pflegte das mit amüsiertem Gelächter zu quittieren, während meine Mutter immer resigniert und vielleicht sogar schamhaft wirkte.
Meine Großmutter liebte Klatsch und Tratsch über die Stars, von deren Werk oder Talent sie gar nichts wusste, nur dass sie in den Zeitschriften auftauchten. Sie verfolgte weder Fernsehen noch Radio und hatte auch keine Ahnung vom Kino, aber durch die Regenbogenpresse wusste sie, wer die Promis waren. Sie hatte auch Nous deux abonniert, ein seltsames Magazin mit Fotoromanen, sehr kurzen, öden Schmonzetten mit italienischen Schauspielerinnen, die auch in die Kalender meines Großvaters gepasst hätten, so sehr ähnelten sie sich alle. Das ist mein kulturelles Familienerbe: die Faszination meines Großvaters für Pin-ups und die meiner Großmutter für Hollywood-Stars. Ich habe sehr früh gelernt, dass die Bilder der Weiblichkeit heilig sind.
Die berühmtesten Frauen der Welt waren allesamt auf den Seiten der Magazine fixiert. Oder auf dem Bildschirm zu Göttinnen erhoben. Oder eingerahmt für alle Ewigkeit in den Museen, wie ich etwas später entdecken sollte.
Ich selbst wurde zu einem Bild, ohne es zu merken.
Es war Mitte der Achtzigerjahre, die Ära des Spektakulären, des Material Girl, des absoluten Modediktats. Da gab es in der Oberstufe einen Modelwettbewerb. Der erste Preis bestand darin, auf einem Plakat von Vrai Coton zu landen, einer multinationalen Kette, von der hierzulande alle redeten und die ausschließlich T-Shirts, Unterhemden und Leggings in den Neonfarben der Saison verkaufte.
Eigentlich hätte ich niemals bei so einem Wettbewerb mitgemacht. Ich war schüchtern, fast stumm und verbrachte meine Tage damit, den Spott oder Neid der anderen zu vermeiden und am besten gar keine Reaktion hervorzurufen. Ich hatte zwei ebenso schweigsame Freundinnen, und zusammen beobachteten wir die anderen, die wussten, wie man auf sich aufmerksam macht. Wir hielten uns von den aufgeregten Grüppchen fern, wo Mädchen und Jungen sich in gehässigen, arroganten Dialogen herausforderten, immer wieder unterbrochen von schrillem, irrem Gelächter oder von scherzhaften Provokationen, die an Einschüchterung grenzten.
Ich war unsichtbar. Die Nähe anderer störte mich; Sozialkontakt war mir ebenso fremd wie Schlagfertigkeit. Ich konnte nur beobachten. Lauschen, ohne mich zu rühren. Im Idealfall vor einem Fernseher. Aber ich wusste, wie man in der Masse verschwindet. Und da ich ein wenig gebückt lief, um nicht aufzufallen, konnte auch keiner bemerken, dass ich größer war als der Durchschnitt und dünner.
Für den Wettbewerb hatte ich mich angemeldet, um in der Masse zu verschwinden, ich wollte es genauso machen wie alle anderen Mädchen. Ich bemühte mich ja auch jeden Morgen, meine hochtoupierte Mähne unter einer Haarspraywolke zu fixieren, und nebelte mir den ganzen Körper mit dem Pseudoparfüm Impulse ein. Ich folgte also dem Trend und stand schließlich lustlos unter den Scheinwerfern der Aula des Gymnasiums.
Später habe ich erfahren, dass mein vollkommen neutraler Gesichtsausdruck die Jury bezauberte. Da ich sämtlichen Blicken auswich, schien ich woanders zu sein, ohne echte Persönlichkeit. Mein Gesicht konnte jeglichen Ausdruck annehmen, ohne dass sich sein eigener durchsetzte. Und da ich so lange ohne eine Bewegung vor dem Fernseher gesessen hatte, mit entspanntem Unterkiefer und weit aufgerissenen Augen, im hypnotisierten Modus, war meine Präsenz inzwischen geradezu anorganisch geworden. Ich war schon nicht mehr ganz lebendig; ich ähnelte einem statischen Bild, das geräuschlos über den Laufsteg glitt.
Schon lange bevor ich begriff, dass ich mich für einen Beruf entscheiden, ja vielleicht sogar studieren musste, um ihn zu erlernen, wollte ich ein Bild sein.
Wäre ich zweihundert Jahre früher zur Welt gekommen, hätte ich seit meiner Kindheit gewusst, was ich werden sollte, das sagte mir meine Großmutter immer wieder. Ich hätte gelernt, das Land meiner Vorfahren zu bestellen, einen Haushalt zu führen, mit Puppen zu spielen, um in meinen Händen etwas zu halten, das noch kleiner war als ich. Als Prinzessin geboren, hätte ich bestimmt die Königin gegeben, mich mit einer Krone auf dem Kopf bis zur Erschöpfung im Kreis gedreht, abgeschottet in der uneinnehmbaren Festung meines zukünftigen Reiches.
Aber ich bin in den Vororten geboren, in einer Schlafstadt. Ich bin in einem Bungalow mit dem kompletten Sortiment elektrischer Haushaltsgeräte groß geworden. Und meine Mutter saß am Fenster, während der Geschirrspüler lärmte, betrachtete identische Bungalows bis zum Horizont und rauchte. Sie war fast so statisch wie die Bilder der Frauen in den Magazinen meiner Großmutter, aber ohne Schminke, keine frisierten Haare, keine Markenkleider. Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages musste sie sich doch aktivieren; ob während ich in der Schule war oder vielleicht nachts, das habe ich nie erfahren. Am späten Nachmittag jedenfalls, wenn ich nach Hause kam, saß sie schon am Fenster, schweigend, rauchend. Und später am Abend ging sie ins Wohnzimmer im Souterrain, machte es sich mit einem Glas Wein, vielleicht auch einem Buch auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem und rührte sich nicht mehr. Im Sommer, wenn sie schwanger war, trat sie vors Haus, um frische Luft zu schnappen; wir gingen einmal um den Block, sie rauchte ihre Zigarette, und ich aß ein Wassereis von Mr. Freeze. Dann hatte sie eine Fehlgeburt und kehrte mit ihrem Glas Wein ins Wohnzimmer zurück.
Meine Mutter war während meiner ganzen Kindheit schwanger.
Drei oder vier Monate lang wuchs ihr Bauch, dann weinte sie eine Woche lang. Ich hörte, wie sie meinem Vater zumurmelte, dass sie es nicht verstehe. Und mein Vater kippte ein großes Glas Gin.
Ich hätte neun Geschwister haben können. Vielleicht noch mehr.
Stattdessen hatte ich Puppen, die so groß waren wie ich und die ich im Wohnzimmer vor dem Bildschirm installierte. Ich dachte, dass das meine Mutter trösten würde. Dass sie mitten in dieser Versammlung so etwas wie Erfüllung