Synthese. Karoline Georges

Synthese - Karoline Georges


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      Hätte es nicht den Fernseher gegeben, der mitten im Wohnzimmer thronte und ununterbrochen Sendungen und Filme ausspuckte, so als wäre ständig etwas los im Bungalow, den Fernseher, vor dem ich so oft wie möglich reglos verharrte – ich hätte mich schon in der Bildersphäre wähnen können.

      Den Großteil meiner Lebenszeit habe ich damit verbracht, Bilder zu betrachten. Oder beim Lesen von Romanen in meinem Kopf welche zu erschaffen. Bevor ich in den Kindergarten kam, füllte ich meine Tage damit, eine Flut japanischer Zeichentrickfilme anzuschauen, darunter auch Der kleine Waisenprinz, die Geschichte der Biene Hutchi. Der Film erzählte mir schon damals von der Einsamkeit, die ich ein paar Jahre später wählen würde, und vor allem von der beängstigenden Abwesenheit einer Mutterfigur. Hutchis Mutter war irgendwo in den Weiten der feindseligen Natur verschwunden, meine war zusammengebrochen unter der Last des Todes in ihrem Bauch.

      Ich weiß noch, wie ich zusammen mit Hutchi über Sümpfe voll bösartiger Kreaturen flog. Mit ihm tauchte ich unter Seerosen. Schlief geborgen in der Blüte einer Tulpe. Tanzte mit den Schmetterlingen. Trat heulend und schreiend gegen Ungeheuer mit riesigen Zangen an. Aber ich weiß auch noch, dass ich meine Tränen ein paar Minuten später wieder trocknete, mit amerikanischen Superhelden, die zwischen zwei Werbeblocks mal eben die Welt retteten, oder mit Bugs Bunny und seinen Kumpanen, diesem lässigen Schlawiner, so cool und selbstbewusst. Dann legte ich mich gern auf den Boden und blätterte in den Bildbänden meines Vaters, der ein komplettes Regal seiner Bibliothek der Geschichte militärischer Gräueltaten gewidmet hatte, ein anderes der Mafia und der Todesstrafe. Noch bevor ich lesen konnte, beschäftigte ich mich mit Fotos von Guillotinen, Galgen und anderen Folterinstrumenten und -techniken aus dem Mittelalter, etwa der Estrapade und der Schädel-quetsche – Instrumente, die übrigens auch in den machiavellistischen Plänen von Wile E. Coyote für den Roadrunner vorkamen. Ich wechselte zwischen den Abenteuern von Asterix, dem Gallier, denen von A. Tom Ameise und Fotos von den Massengräbern des Zweiten Weltkriegs.

      Ich entdeckte das Fantastische und das Grauenhafte. Fiktion und Realität, miteinander vermengt.

      Das lebhafte Lichterspiel auf dem Bildschirm vertrieb all meine Ängste. Mir wurde klar: Wenn ich mich von einer unendlichen Reihe Zeichentrickfilme berieseln ließ, konnte ich der Realität die Nase drehen; der Tod war immer nur ein kurzes Innehalten, ein paar Sekunden lang, bevor meine Idole sich von neuem mit Energie aufpumpten, um ihre Verfolgungsjagden wieder aufzunehmen und für neues wildes Gelächter zu sorgen.

      Jahrelang und immer häufiger hatte ich das Bedürfnis, mich mit Hilfe dieser endlosen Lachsalven all dem entgegenzustellen, was, ob ich wollte oder nicht, von der Welt außerhalb der Bilder zu mir durchdrang.

      Auch das Begehren, gebeamt zu werden, kannte ich bereits, eine neue Haut zu bekommen, einen neuen Körper. Multipel zu sein, mutierbar. Ausgestattet mit Robotergliedmaßen oder -flügeln. Meine übernatürlichen Fähigkeiten oder meine außerirdische Herkunft zu entdecken. In der Zeit zu reisen.

      Da ich ständig bewegte Bilder betrachtete, ständig und ausschließlich, verlor ich sehr früh jegliche Freude an der Realität.

      Schon bevor ich in den Kindergarten kam, hatte ich Science-Fiction-Albträume, in denen ich auf einem Besenstiel flog wie Samantha in Verliebt in eine Hexe, aber meine Bewegungen nicht kontrollieren konnte. Ich versuchte, gefühlt stundenlang, meinen Körper auf zwei, drei Metern über dem Boden zu halten oder mich weiter in die Höhe zu erheben, mich in der Waagrechten fortzubewegen, Gebäude und Bäume zu umfliegen, aber immer wieder drohte mich der Boden mit seinem Sog zu verschlingen. Ich schaffte es nicht, mich zu befreien, und wachte schweißgebadet auf, völlig erschöpft von all den Manövern. Noch immer lässt mich die Erinnerung an diese Flugversuche nicht los; zwischen der Erinnerung an meine Träume und der an Alltagsereignisse besteht kein Unterschied. Fliegen habe ich genauso mühelos erlebt wie das Schwimmen im Meer. Genauer gesagt, bin ich viel öfter geflogen als geschwommen.

      Und ich erinnere mich auch besser daran.

      Als Kind wollte ich den Unterschied zwischen Sein und Schein nicht akzeptieren. Was auf dem Bildschirm oder zwischen den Zeilen eines Romans geschah, hatte für mich größeren Wert als die Realität. Was ich beim Lesen und beim Fernsehen empfand – Faszination, Vergnügen, Neugier, Verblüffung –, erwies sich als unbestreitbar intensiv. Aber sehr früh wurde mir klar – zu früh vielleicht –, dass ich mich auf der falschen Seite des Bildschirms befand.

      Sämtliche Sommer meiner Kindheit verbrachte ich zurückgezogen in meinem Zimmer im Souterrain und verschlang hinter verschlossenen Vorhängen zwei bis drei Romane am Tag. Meine Erinnerungen an damals beschränken sich auf ein Schlafzimmer von neun Quadratmetern und ein Wohnzimmer von gut elf Quadratmetern. Dort trank mein Vater ständig Rum-Cola und hörte die Hits der Sixties, umgeben von seiner Waffenkollektion, die er ein einziges Mal im Jahr polierte, den Rest der Zeit sammelte sie Staub an, während er über den Dauerdetonationen seiner Kriegsdokus einschnarchte. Meine Mutter richtete sich in der Küche häuslich ein, um Michel Tremblay und Danielle Steel zu lesen, dazu gab es ihre du-Maurier-Zigaretten und italienischen Wein. Jeder von uns verpuppte sich in seinem Kokon aus Wörtern, Bildern oder Musik.

      Wenn mein Vater arbeitete, öffnete ich irgendwann im Laufe des Nachmittags meine Zimmertür und bewegte mich drei Meter weit zum Fernseher, um mich vor meiner täglichen Lichtquelle niederzulassen. Am frühen Abend begab ich mich nach draußen, in die kleine Stadtbücherei, auf der Suche nach neuen Universen, die ich erkunden konnte. Vor allem Science-Fiction. Oder Fantastisches. Die echteste, die reinste Fiktion; die machtvollste. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, zog die Vorhänge auf, hinter denen ein Eckchen Mond sichtbar wurde, und versenkte mich wieder ins Lesen.

      Schnell wechselte ich von den Geschichten der Comtesse de Ségur über kleine unglückliche Vorbildmädchen zur Reihe »Die fantastische Maske« und den Büchern des Verlags Fleuve noir, wo ich in Berührung mit unzähligen ungeheuerlichen Wesen kam. Ich hatte keine Ahnung von Literatur, kannte nicht einmal das Wort, dessen Bedeutung ich erst Jahre später im Französischunterricht am Gymnasium lernte. Wie viel die Texte taugten, die ich nach dem Zufallsprinzip aus der Bücherei holte, wusste ich nicht, aber ich war eingefleischt neugierig. Je seltsamer, je unrealistischer, desto begieriger wurde ich. Schon damals lebte ich gern in parallelen Realitäten, in mehreren Wachträumen gleichzeitig halb am Leben. Morgens vertiefte ich mich in den Gothic-Kosmos von Dracula, und beim Dunkelwerden schoss ich mich in die Zukunft, irgendwo jenseits der 612. Galaxie eines Caroff-Romans.

      Seit ich auf die Welt kam, wurde ich zur Zeugin von Fiktionen gemacht, und die spielten sich jenseits einer Glasscheibe ab, vor der ich ebenso fromm kniete wie eine Gläubige vorm Altar. Ich verbrachte viel mehr Zeit damit, die Entwicklung fiktionaler Figuren zu ergründen, als meine Eltern zu beobachten. Auf der Welt sein hieß für mich immer, mich dem Außen zuzuwenden. Dem Anderen. Der schillernden Person im Fernsehen, dem Erzähler, der mir seine Abenteuer in einer tausendmal vielfältigeren Komposition aus Wörtern schildert, als es die paar Einsilber im hiesigen Zungenschlag sind, die mich zu Hause umgeben.

      Sehr früh habe ich begriffen, dass sich das wahre Leben dort abspielte, auf dem Bildschirm. Oder auf den Seiten eines Buches. Alles andere war lästige Pflicht, schleunigst zu erledigen, damit ich so oft wie möglich die unwahrscheinlichen Welten aufsuchen konnte, die sich über eine Antenne empfangen oder auf Papier drucken ließen.

      Bevor meine Mutter


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