Mythen, Macht + Menschen durchschaut!. Christoph Zollinger

Mythen, Macht + Menschen durchschaut! - Christoph Zollinger


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in die Geschichte ein, weniger als Staatsmann. Um sich seiner Verhaftung zu entziehen, beging Demosthenes Selbstmord, indem er ein schnell wirkendes Gift trank.

      »Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch für wahr haben möchte, hält er auch für wahr«, soll er einst gesagt haben.

       4. August 2013

       Nr. 92

      Wie kann ich verstehen?

      Woran orientieren sich Menschen? Warum folgen sie gesellschaftlichen Mustern? Was prägt sie? Wie könnte unser »System« verändert werden?

      Eine meiner persönlichen Lebensdevisen ist, dass ich Menschen verstehen möchte. Damit meine ich nicht, dass ich dann mit ihnen einverstanden zu sein hätte. Doch die Regeln und Hintergründe interessieren mich. Warum »wissen« wir und »handeln« trotzdem anders?

      Wie kommt es zum Beispiel, dass mein Freund seinen politisch mir diametral entgegengesetzten Standpunkt verteidigt? Wo wir uns doch sonst ausgezeichnet verstehen? Oder warum meinen am Partygespräch alle, man müsse etwas tun gegen den Klimawandel, um anschließend persönlich immer größere, schwerere, umweltfeindlichere Autos zu kaufen?

      So versuche ich also, zum Beispiel, herauszufinden, warum jemand überzeugt davon sein kann, die Wahrheit zu kennen, oder warum er zu wissen meint, dass er recht hat. Es interessiert mich, der Frage nachzudenken, warum Ideologen unentwegt danach trachten, für ihr persönliches Gedankenkonstrukt zu missionieren. Immer öfter nehme ich zur Kenntnis, dass Branchenverbände gerissene PR-Agenturen verpflichten, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, um ihre Macht spielen zu lassen. Mit gezielten Lügen und Angstszenarien verbreiten sie flächendeckend Unwahrheiten.

      Doch warum verwenden Populisten beträchtliche Millionen Franken aus ihrem privaten Besitz, um die Unwissenden und Naiven aufzuklären? Natürlich nach ihrem persönlichen, eingeschränkten Weltbild. Warum, so frage ich mich weiter, wird ein Topmanager vor staunendem Publikum von seiner Kanzel herunterpredigen, er sei es wert, in zwanzig Jahren Hunderte von Millionen verdient zu haben? Beträge, die er als Angestellter legal aus der Firmenkasse entwendet hat.

      Oder kann mir jemand erklären, warum bestandene Philosophen ihre Vorgänger kritisieren müssen? Warum Wissenschaftler generell meinen, die Befunde ihrer Kollegen aus früherer Zeit als falsch beiseiteschieben zu müssen, nur weil sie anderer Meinung sind oder Zugang zu neuen Erkenntnissen haben?

      Erstaunlich auch, so wundere ich mich, dass politische Parteiexponenten ihre andersdenkenden Mitstreitenden à tout prix vor laufender Kamera demontieren oder ihnen, ohne rot zu werden, Sturheit, Inkompetenz und Verblendung vorwerfen – während sie offensichtlich selbst gemeint sein könnten.

      Aber auch wir, die Gesellschaft, warum belügen wir uns laufend selbst? Natürlich nicht die anonyme Gesellschaft, sondern die Menschen sich selbst. In munterer Gesellschaft sind alle einverstanden damit, dass Strom gespart werden muss. Doch zuhause erstrahlt die flächendeckende Weihnachtsgartenbeleuchtung Nacht für Nacht von November bis Februar. Und die stromfressende Schockbeleuchtung an der Hausfassade schaltet hundert Mal ein und aus, jede Nacht, bei jedem Windstoß oder Fuchs, der vorbeischleicht.

      Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse geben Aufschluss, warum Menschen oft – scheinbar unverständlich – denken und handeln. Hier stellvertretend drei Thesen:

      Erstens: Aus den kognitiven Wissenschaften, hauptsächlich Neurowissenschaften und Linguistik, kennen wir die These, hier stark verkürzt, wonach die Beschaffenheit meines Gehirns durch meine persönlichen Erfahrungen in dieser Welt bestimmt wird. Als Kind, als Mitglied meiner Familie, mache ich meine ersten Erfahrungen. Durch Belohnung oder Bestrafung lerne ich zum Beispiel, was (für mich) richtig oder falsch ist. Natürlich geht es hier nicht um Mathe.

      Daraus leite ich sukzessive ab, was (für mich) die Wahrheit ist. Deshalb ist die Annahme von objektiven Wahrheiten in der Welt schlicht falsch. Was tue ich, wenn ich denke und kommuniziere? Ich benenne die Dinge so, wie sie für mich in meinem Gehirn vorhanden sind. Theoretisch gesprochen: Je häufiger ich seit frühester Kindheit gewisse Synapsen in meinem Hirn nutze, desto mehr chemische Rezeptoren für Neurotransmitter (Botenstoffe) wandern zu dieser Synapse, sie wird dadurch (und entsprechende Neuronen) gestärkt, während andere allmählich wegen Nichtgebrauchs absterben. Die Neurowissenschaft hat den Slogan geprägt: »Fire together, wire together.« Ähnlich, wie sie einen anderen Merkspruch propagiert: »Use it or lose it!« – das Gehirn soll genutzt werden, auch im hohen Alter.

      Zweitens: Über 80 Prozent unseres Denkens läuft vollkommen unbewusst ab. Ich weiß doch, was ich denke? Nein, ich weiß es eben nicht. Im Laufe der Zeit habe ich mir, durch ein höchst komplexes System, das Denken in Metaphern, Bildern zugelegt. Dieses wiederum ist geprägt von meinen entsprechenden kulturellen Erfahrungen. Ein Beispiel: Es gibt Kulturen, in denen Vergeltung der einzige Weg ist zum Ausgleich der moralischen Konten. »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Anderswo wird Versöhnung bevorzugt. »Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich recht, vielleicht irren wir uns beide.« In welchen Kulturen wir aufwachsen, darauf haben wir keinen Einfluss.

      Deshalb eignen wir uns unterschiedliche metaphorische Konzepte an, um in der Welt zu bestehen. Auch hier ein Beispiel. Fasse ich das Leben eher als Kooperation auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Partner: »Ich fordere dich auf«, sage ich etwa, verständnisvoll und einladend. Fasse ich dagegen das Leben als Krieg auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Gegner: »Ich schieße los!«, auch wenn ich natürlich nur eindrücklich rede und gestikuliere.

      Drittens: Auch politische Programmpunkte lassen sich auf unterschiedliche Moralvorstellungen (Metaphern) zurückführen. Es lassen sich beispielsweise die beiden Familienmodelle nachweisen: das konservative des strengen Vaters und das progressive der fürsorglichen Eltern. Diese Differenzierung ist besonders in den USA ausgeprägt. Hierin widerspiegelt sich auch das grundsätzlich unterschiedliche Verständnis zwischenmenschlichen Umgangs: Autorität und Empathie. Damit ist natürlich nicht gemeint, eine Bevölkerung lasse sich mit einem Strich in zwei polare Gruppen einteilen; vielmehr gibt es jene Menschen, die mäandrieren, einem dies, einmal das.

      Nach diesem rudimentären Ausflug in die Wissenschaft fällt es nicht schwer, zu realisieren, wie im Alltag clevere Machthabende versuchen, »auf leisen Sohlen ins Gehirn« anderer zu schleichen. Aufgrund meiner Erfahrungen entwickle ich meinen persönlichen Deutungsrahmen für meine verinnerlichten Metaphern. Anders gesagt, mein Bild wird gerahmt – die Wissenschaft spricht von Frames – und auf diese Weise strukturiert, um jeder Information einen Sinn zu geben, »meinen« Sinn.

      Auch dazu ein Beispiel. Besonders erfolgreiche Kommunikatoren (miss-)brauchen gezielt Frames, um ihrer Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei hat sich längst erwiesen, dass symbolische Werte punkten, abstrakte Programme hingegen nicht. »Das Boot ist voll« oder »Wir verteidigen unsere Freiheit und Sicherheit« und »Kampf dem Terror«, »Wir befürworten Steuersenkungen« – wir alle wissen augenblicklich, was gemeint ist. »Revision des Asylwesens«, »Agenda einer sozial verträglichen Immigration« oder »Sicherheitsrelevante Vorkehrungen gegen staatsfeindliche Elemente« und »Maßnahmen zur Austarierung des Staatsbudgets« – diese programmatischen Formulierungen sind schlechte Abstimmungsparolen. Diese Bilder sind sozusagen aus dem Rahmen gefallen.

      Allmählich dämmert uns, dass wir Menschen unter dem gleichen Wort, der gleichen Botschaft, demselben Bild völlig Unterschiedliches verstehen. »Für eine sichere Zukunft in Freiheit«, so wird geworben im Extrablatt der SVP, heißt hier: »Schweizervolk, erwache! Auf in den Kampf gegen die fremden Richter in Brüssel!« (Kriegsmetapher) – dieser Aufruf ist sogar ehrlich gemeint. Aus der persönlichen Erfahrungswelt.

      Für andere liegt die Zukunft der Freiheit ganz woanders. Zwar schätzen sie die Freiheit ebenso, doch sie verstehen darunter ein anderes Zukunftsbild. »Das Leben in einer Demokratie, in der Menschen unterschiedlichster Meinungen in Freiheit zusammenleben, sich organisieren und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen« zum Beispiel (Kooperationsmetapher). Auch dies als Reaktion auf ihre persönliche Erfahrungswelt. Wir realisieren, dass sogar ein und dasselbe Wort mit völlig unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt wird.

      Was


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