Wackernells Visionen. Leo Hillebrand

Wackernells Visionen - Leo Hillebrand


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für Italien. Für ihn selbst sollte sich diese Entscheidung lohnen, blieb er doch im Großen und Ganzen vom Krieg verschont und konnte die meiste Zeit zu Hause verbringen. Anders der Sohn: Norbert musste gleich wie die Oberschüler aus Optanten-Familien ab Herbst 1943 die von den deutschen Besatzern improvisierte Oberschule im Vinzentinum Brixen besuchen. Die Deutschen hatten im bischöflichen Knabenseminar die geistlichen Lehrer und Aufseher delogiert, nur die Ordensfrauen versahen weiterhin ihren Dienst. Auf den jungen Wackernell machte die ganze Angelegenheit einen überaus improvisierten Eindruck. Die Lehrer seien alte Männer gewesen, die offensichtlich nach politischen Gesichtspunkten und nicht nach fachlicher Kompetenz ausgewählt worden seien. Der Deutschlehrer beherrschte die Hochsprache lediglich mangelhaft, und der Mathematiklehrer sei ein alter Artillerieoffizier gewesen, den man offenbar ausgewählt habe, weil er eine Ahnung von Parabeln hatte. Mit ihm habe man auch kaum gerechnet, sondern sei regelmäßig zum Üben auf den Schießstand nach Vahrn gegangen. Zu den wenigen fachlich kompetenten Professoren habe Oswald Sailer gezählt. Eine lange Zukunft war der deutschen Oberschule in Brixen ohnehin nicht beschieden: Als die Alliierten auch Brixen ins Visier nahmen und mehrere Bomben in der Nähe des Vinzentinums niedergingen, schlossen die Behörden die Schule und übersiedelten die gesamte Lehrer- und Schülerschaft nach Gröden. Sie brachten die Mädchen in St. Christina unter. Die Buben dagegen erhielten im Wolkensteiner Hotel Oswald Unterricht und wohnten im benachbarten Hotel Post. Wackernell erwartete, in Gröden die Matura ablegen zu können. Doch es sollte anders kommen. Noch bevor das Schuljahr 1944/45 begann, wurde er – obwohl Sohn eines Dableibers – für den sogenannten „Südeinsatz“ zwangsrekrutiert. Man verfrachtete ihn auf einen Lastwagen und brachte ihn nach Verona. Dort kam er im Rahmen der „Organisation Todt“ (OT) zum Einsatz. Diese paramilitärische Einheit war von der Reichsführung mit der Aufgabe betraut, den südlichen Teil der „Alpenfestung“ zu errichten. Wackernell und sein Mitschüler Bernhard Höllrigl kamen zunächst in Verona zum Einsatz, wo sie in erster Linie als Dolmetscher zwischen deutschen und italienischen Stellen fungierten. Den größeren Teil der Zeit ihres „Südeinsatzes“ verbrachten die beiden Südtiroler aber in Rovereto, wo sich das Hauptquartier der Organisation Todt befand. Geplant war unter anderem der Bau einer Serie von Bunkern und Schützengräben von Bassano del Grappa bis zum Gardasee. Wackernell und Höllrigl übersetzten zunächst die Pläne zu den Bauvorhaben. War dann beispielsweise ein Bunker fertiggestellt, erfolgte die sogenannte Baustandsmeldung direkt in das Führer-Hauptquartier nach Berlin. Für deren vorherige Übertragung ins Deutsche waren ebenfalls die beiden Südtiroler zuständig. Wackernell beschrieb die Atmosphäre in Verona und Rovereto als entspannt. Mit den Deutschen, fast durchwegs Hamburger, seien sie gut zurechtgekommen und mit den eingebundenen Italienern habe es ohnehin nie Spannungen gegeben. Das OT-Personal war in den Hallen des Flugzeugbauers Caproni untergebracht und die Versorgung den Umständen entsprechend gut. Kritisch war vielmehr, dass im Winter 1944/45 auch Rovereto Ziel alliierter Luftangriffe wurde. Die Bomber nahmen vor allem die Brücken ins Visier und den Bahnhof, in dessen unmittelbarer Nähe die beiden Südtiroler einquartiert waren. Ein Angriff blieb Wackernell in besonderer Erinnerung: „Wir waren auf der Straße unterwegs, da hörte ich die Bomber kommen. Mit gespielter Ruhe meinte ich altklug zu Bernhard: ‚Wenn man es bei den Tieffliegern glitzern sieht, dann wird es kritisch, dann klinken sie nämlich die Bomben aus.‘ Bernhard sah nach oben und schrie nur: ‚Und wie es glitzert!‘ Da krachte es auch schon. Wir warfen uns nieder, die Bomben gingen aber über uns hinweg.“ Wackernell meinte rückblickend, er habe in dieser Phase schon verstanden, dass der Krieg nicht mehr lange dauern könne. Schwere Bedenken hatte er allerdings bezüglich der Alpenfestung. Er befürchtete, sie könne den Krieg verlängern und Südtirol zum unmittelbaren Kriegsgebiet werden lassen. Entsprechend erleichtert war er, als er am 25. April 1945 von der Kapitulation General Kesselrings in Oberitalien hörte.

      Dramatische Ereignisse am Monte Pelmo

      Bevor sich Norbert Wackernell jedoch über das Kriegsende freuen und Zukunftspläne schmieden konnte, stand ihm 1944 das wohl dramatischste Ereignis seines Lebens bevor. Er und Bernhard Höllrigl sollten drei Hamburger Ingenieure dabei unterstützen, auf der Hochebene unterhalb des Monte Pelmo (südlich von Cortina d’Ampezzo) Vermessungen vorzunehmen. Die Deutschen entwickelten nämlich konkrete Pläne, dort eine Abschussrampe für die V2 zu bauen. Teil des Projektes war die Errichtung einer Seilbahn, mit der man die Raketenteile auf den Berg transportieren wollte. Und den Bau dieser Bahn galt es vorzubereiten. Die Gruppe kam vor Weihnachten 1944 am Fuß des Berges in Forno di Zoldo an und stieg zu jener Almhütte auf, die ihr in den kommenden Wochen als Unterkunft diente. Die Ausstattung der Hütte war zwar spartanisch, speziell das Schlafen bereitete einige Schwierigkeiten. Die Verpflegung war dagegen für die Zeitumstände erstklassig, ja geradezu privilegiert. Jede Woche kam ein Kleinlastwagen aus Rovereto und brachte alles Nötige mit. Sogar für Sonderwünsche gab einen gewissen Spielraum. Die Vermessungsarbeit schritt zügig voran. Aber bald merkte die Gruppe, dass sie nicht allein auf der Anhöhe war: In der Gipfelzone hatte sich eine bis an die Zähne bewaffnete, etwa zwei Dutzend Mann starke Partisanengruppe verbarrikadiert. Bald kam es zum ersten Kontakt und es gelang, eine Art Abkommen zu schließen. Die Italiener sollten Wackernell und Co. unbehelligt ihre Arbeit verrichten lassen, umgekehrt würden die OT-Leute die Existenz der Partisanengruppe vor Ort nicht ins Hauptquartier nach Rovereto melden. Tatsächlich gestalteten sich die Beziehungen in der Folge durchaus entspannt, insbesondere nachdem sich die Partisanen überzeugt hatten, dass die Technikergruppe über keinerlei Waffen verfügte. Dies war auch die Folge eines fast absurden Problems: Die Briten hatten Kenntnis von der Partisaneneinheit und ihrem Aufenthaltsort. Sie überflogen das Gebiet und warfen öfters Waffen und Munition ab, nie aber Nahrungsmittel. So ergab es sich, dass die gut versorgte Vermessungstruppe den Italienern immer wieder Verpflegung abtrat. Umgekehrt waren die Partisanen bei verschiedenen Arbeiten behilflich. Wackernell gewann den Eindruck, es handle sich weniger um eine hoch politisierte, aggressive Gruppe, sondern um junge Männer, die schlichtweg vermeiden wollten, von der Wehrmacht gefangen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert zu werden. Die Beziehungen hätten wohl auch ohne Probleme mit Abschluss der Vermessungstätigkeit geendet, hätte nicht einer der deutschen Ingenieure entgegen den Vereinbarungen in einem Gespräch mit dem Hauptquartier durchblicken lassen, es seien Partisanen in der Gegend. Dann ging alles ganz schnell! Unten in Forno trafen zwei Lastwagen mit einer Polizei-Einheit von insgesamt etwa 25 Mann ein. Die gesamte Besatzung bestand ausgerechnet aus Südtirolern. Wackernell und Höllrigl war die akute Gefahrensituation sofort klar. Sie stiegen hinab ins Dorf und nahmen Kontakt mit dem Anführer der Einheit, einem Möltner namens Schrott, auf. Tatsächlich erklärte dieser, man wolle das Partisanennest ausheben. Wackernell wandte ein, die Partisanen seien am Gipfel in einer optimalen Position, bestens ausgerüstet und, anders als die Südtiroler Polizisten, kampferprobt. Bei einem Angriff drohe der Einheit ein Gemetzel, womöglich würde niemand überleben. Die Südtiroler sollten sich daher ohne Aufhebens zurückziehen. Dies lehnte Schrott mit dem Hinweis auf die eindeutige Befehlslage ab. Zu einer weiteren Zuspitzung der Situation kam es, als die Partisanen Wind von der Anwesenheit der Polizeieinheit bekommen hatten. Sie warfen Wackernell und seinen Kollegen Verrat vor. Wackernell schaltete nun den Bürgermeister von Forno ein und es kam zu hektischen Verhandlungen. Die Lösung brachte schließlich Wackernells Vorschlag, bei seinem Vorgesetzten in Rovereto, Rücke, in der Sache zu intervenieren. Tatsächlich gelang mit dem Hinweis, der Polizeieinsatz gefährde die Vermessungen und damit die zeitgerechte Umsetzung des V2-Projektes, eine Rücknahme des Befehls. Daraufhin zog die Südtiroler Einheit ohne weitere Zwischenfälle wieder ab. Wackernell sprach im Allgemeinen überaus uneitel über seine Projekte und Verdienste. Kam er hingegen auf diese Episode zu sprechen, verlieh er ohne falsche Bescheidenheit seiner Überzeugung Ausdruck, durch sein entschlossenes Eingreifen zahlreiche Menschenleben gerettet zu haben.

      Über Umwege nach Hause

      Nach diesem Zwischenfall kehrten Wackernell und Höllrigl mit den deutschen Ingenieuren in das OT-Hauptquartier nach Rovereto zurück. Dort war man von der Arbeit der beiden Südtiroler angetan und entließ sie nach Hause, um ihnen im Sommer 1945 das Ablegen der Kriegsmatura zu ermöglichen. Zurück in Meran erfuhr Wackernell unmittelbar, dass der „totale Krieg“ auch Südtirol erreicht hatte. Als er zu Hause die Türglocke betätigte, blieb diese


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