Wackernells Visionen. Leo Hillebrand
Einsatz in Verona und Rovereto während des Krieges nicht anerkannt wurde, war der gesamte Dienst zu absolvieren. Nicht zuletzt wegen seines Pessimismus hinsichtlich eines Weltfriedens und weil es für Akademiker keine Zugangsbeschränkungen gab, entschied er sich für die Offiziersschule in Lecce. Die eigentliche Ausbildung erfolgte in Cesano di Roma, die restlichen Monate verbrachte Wackernell in Apulien. Er fühlte sich im Süden wohl, zeigte aber wenig soldatische Gesinnung. Gerne pfiff er auf die täglichen Rituale und verbrachte bei jeder Gelegenheit seine Zeit damit, Englisch zu lernen. Nach Abschluss der Ausbildungsphase leistete der frisch gebackene Unteroffizier den letzten Abschnitt des Militärdienstes ausgerechnet in der „Wackernell-Kaserne“ in Mals. Diese war nach seinem 1928 in Libyen gefallenen Onkel Siegfried benannt. Das ihm zugeteilte Dutzend Wehrdiener, allesamt aus dem Pustertal, machte aber nicht wie vorgesehen Jagd auf Schmuggler und illegale Grenzgänger, sondern auf Wild. Wenn sich daraufhin wieder einmal der Protest der Jäger aus dem Revier erhob, bedurfte es der ganzen diplomatischen Kunst Wackernells, um die aufgebrachten Vinschger zu beruhigen.
Reger Geist in fittem Körper
Konnte sich der junge Wackernell mit dem großstädtischen Ambiente Mailands nur bedingt anfreunden, so schätzte er die sportlichen Möglichkeiten umso mehr. Hinter dem Politecnico befand sich ein schöner Sportplatz, auf dem er seine Lieblingsdisziplin Stabhochsprung trainieren konnte. Zu dieser damals in Südtirol seltenen, weil anspruchsvollen und nicht ungefährlichen Sportart kam Wackernell als Oberschüler. Zunächst trainierte er an der Passer gleich unterhalb der Zenoburg, wo es einen kleinen Sportplatz gab. Man trainierte noch ohne Matten, was einen anderen Stil als den heutigen bedingte, da man nach dem Sprung wieder auf den Beinen aufkommen musste. War dies nicht der Fall – und dies kam oft genug vor – drohten zumindest blaue Flecken. Auch wenn von den heute erzielten Höhen keine Rede sein konnte, in Richtung drei Meter sprang Wackernell schon als Jugendlicher. In Mailand frönte er zunächst weiter seiner Leidenschaft, bis er merkte, dass vor Prüfungen seine Konzentration beim Training zu wünschen übrig ließ. Und das war im Stabhochsprung bedenklich. Man kam leicht auf dem Rücken auf und riskierte schwere Verletzungen. Rückblickend meinte Wackernell sarkastisch, mit diesem Sport habe er sich Hüften und Knie ruiniert. Aber selbst der Umstand, dass er schon seit geraumer Zeit mit vier künstlichen Gelenken lebte, konnte ihn bis ins hohe Alter nicht von sportlicher Betätigung abhalten. Haftete dem Stabhochsprung etwas Exklusives an, so erfreute er sich als Kind wie die meisten Städter am Wassersport. Schwimmen lernte er aber nicht im Schwimmbad, sondern in der Passer. Das Lido in der Postgranz war zu weit entfernt und das einzige Hallenbad im Kurmittelhaus relativ teuer. Wollte er von zu Hause am Tappeinerweg zum Sportplatz an der Passer hinunter, zog er sich die Badehose an und durchschwamm den Fluss. Gerne dachte der Senior an das Bad Malferthaus in Obermais zurück, das seine Freunde und er oft aufsuchten. Nach dem Schwimmen ließen sie sich von dem beim Ofenbauer gefassten Waalwasser Richtung Stadt bis zum Töpfer Indra treiben. Von seinen Eltern lernte Wackernell bereits als Kind Skifahren, und zwar an einem unverdächtigen Ort: In den kalten Wintern der 1930er-Jahre übte man den Wintersport nicht notgedrungen in der Höhe aus. Viele Meraner Kinder unternahmen ihre ersten Versuche auf zwei Brettern im schattigen Naiftal, wo sich heute die Talstation der Seilbahn „Meran 2000“ befindet. Skifahren blieb in der kalten Jahreszeit Wackernells bevorzugtes Hobby. Auch während seines Studiums in Mailand ließ er es sich nicht nehmen, zu Weihnachten zwei Wochen in Hafling die Ski anzuschnallen. Und er zählte früh zu jenen, die gerne auch die ausgefahrenen Pisten verließen. Als er 1944 mit Freunden eine Skitour am Cevedale unternahm, verletzte er sich schwer am Meniskus. Mit kaputtem Knie schaffte er unter höllischen Schmerzen noch die Abfahrt bis nach Goldrain. Da es noch keine Meniskusoperation im heutigen Sinn gab, gipste der behandelnde Arzt Dr. Kneringer das ganze Bein ein. Dies mochte noch so unangenehm sein, brachte aber für den jungen Patienten einen entscheidenden Vorteil. Er war nämlich zur Musterung für die Wehrmacht angemeldet. Sein Gipsbein rettete Wackernell vor einem Kriegseinsatz in letzter Minute. Welche Bedeutung die Ski für Wackernell hatten, erahnt man, wenn er meinte, er sei 20 Jahre seines Lebens Stabhochspringer, 40 Jahre Segler, aber sage und schreibe 80 Jahre Skifahrer gewesen. Nicht ohne Stolz legte er dar, dass er noch mit Ende 80 auf den Brettern stand, in einem Alter also, als er längst künstliche Gelenke trug. Ein anderer Breitensport, den Wackernell praktizierte, war das Radfahren. Seit der Zeit, als ihm sein Vater beim Fahrradhändler Mich neben der Kapuzinerkirche das erste Rad kaufte, war der Schüler ständig auf zwei Rädern unterwegs. Dass es nicht bei den üblichen Einkaufs- oder Bummelfahrten blieb, verdeutlichten die Radtouren während des Studiums. Die Zugfahrten von Mailand nach Meran dauerten lange, die erste sogar über 24 Stunden. Die Reise war auch deswegen beschwerlich, weil es wegen zerstörter Brücken oder Geleise öfters Umleitungen gab und er wiederholt umsteigen musste. So machte er aus der Not eine Tugend und stieg aufs Fahrrad um. Jedes Jahr im Sommer wählte Wackernell eine Route über die Alpen, beispielsweise einmal über die Dolomiten, ein anderes Mal weiter westlich über das Nonstal. Dabei ließ er sich Zeit und stieg in den Nächten in kleinen Hotels oder Gasthöfen ab. Bis er in Meran eintraf, war der Student je nach Route sieben bis zehn Tage unterwegs. Für ihn war es eine ideale Möglichkeit, vom Uni-Betrieb und Prüfungsstress abzukoppeln und dem Sommer entgegenzusehen. Mit dem kecken Hinweis „Ich habe alles getan, was Gott verboten hat!“ verwies Wackernell darauf, dass er auch weit verwegeneren Sportarten zugetan war als dem Radfahren. Ein Beispiel ist das Eissegeln, wie es heute eigentlich nur mehr in Skandinavien ausgeübt wird. Aktiv war er sowohl auf dem Reschen- als auch auf dem Haidersee. Aufgrund der strengen Winter der Nachkriegszeit war die Dicke des Eises stets ausreichend. Es trug die teils recht schweren Schlitten problemlos. Zeitweise war Wackernell mit einem Gerät auf dem Reschensee unterwegs, das er zusammen mit Hans Stecher gebaut hatte. Bei manchem Wind erreichte es Geschwindigkeiten, die höher als jene von vorbeifahrenden Autos waren. Ungefährlich war die Angelegenheit nicht. Wackernell kamen mitunter bei voller Fahrt Zweifel, ob er den Schlitten wohl rechtzeitig vor dem Ufer stoppen könne. Letztlich erlitt er keine schweren Unfälle. Wohl aber sein Bozner Sportsfreund Erich Kaspareth, der einmal mit einem anderen Eissegler zusammenprallte und für zwei Wochen im Krankenhaus landete. Risiko hin, Abenteuer her: An der Laufbahn des Ingenieurs sieht man deutlich, dass Sport für Wackernell nie Selbstzweck oder Selbstdarstellung war, sondern immer funktional zu Studium und Beruf. Hier fand er eine Möglichkeit, von den Belastungen des Alltages abzuschalten.
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