Die entkoppelte Kommunikation. Kurt E. Becker
Dr. Phil. Kurt E. Becker, Jahrgang 1950. Studium der politischen Wissenschaften, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Pädagogik in Freiburg /Breisgau und Stuttgart, Publizist, Autor und Herausgeber von mehr als 40 Büchern. Kommunikationsberater, Medien- und Executive Coach von Führungskräften der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens. Initiator von Veranstaltungs- und Gesprächsreihen wie „Frankenthaler Gespräche“, „Futurion“, „Preis für humanes Bauen“, „PROM des Jahres“, „Bildungsinitiative Energie“, „ENRESO 2020“, „Andreasstift-Gespräche“. Zahlreiche Publikationen zum Thema „Corporate Communicative Responsibility“. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Du darfst Acker zu mir sagen, Roman, Landau/Pfalz, 1982 (Taschenbuchausgabe unter dem Titel „Unerlaubte Entfernung“, Frankfurt a. M., 1985); Pais Paizon, Erzählung, St. Michael, 1982; Anthroposophie – Revolution von innen: Leitlinien im Denken Rudolf Steiners und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Frankfurt a. M., 1984 (mehrere Auflagen 1985, 1986, 1988, Reprint 2015); Der römische Cäsar mit Christi Seele: Max Webers Charisma-Konzept; eine systematisch-kritische Analyse unter Einbeziehung biographischer Fakten, Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris, 1988; Charisma. Der Weg aus der Krise, Bergisch Gladbach, 1996; Der Charisma-Faktor. Glücklich sein mit Sisyphos, Frankfurt, 2016; Als Paulus kam nach Stutensee, Bretten, 2018; Der behauste Mensch. Von vier Wänden und einem Dach über dem Kopf. Im Dialog mit 77 Persönlichkeiten von Aristoteles bis Stefan Zweig. Ostfildern, 2021.
Kurt E. Becker
Die entkoppelte
Kommunikation
Warum wir immer mehr wissen,
aber immer weniger verstehen
Lindemanns
Für Ernst H. Lutz, Generalmajor a.D.,
in Freundschaft verbunden seit der gemeinsamen Zeit
bei der Bundeswehr vor fünf Jahrzehnten
Vorwort
Verständnis für die großen
Zusammenhänge der Kommunikation
Dieses Buch möchte das Verständnis für die großen Zusammenhänge in der Kommunikation im speziellen, aber auch in unserem generellen so und nicht anders Gewordensein in unserer zivilisierten Welt westlicher Prägung fördern. Basis dieser Verständnisförderung sind Texte aus vier Jahrzehnten aktiver Kommunikationsarbeit als „Spin-Doctor“ in der PR-Branche für Unternehmen unterschiedlicher Branchen einerseits, kombiniert mit einer steten theoretischen Begleitung dieser Arbeit aus publizistischer, journalistischer, sozialwissenschaftlicher und psychologischer Perspektive andererseits. Ebenso fließen Erfahrungen aus meiner Arbeit als Executive-Coach für Führungskräfte der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens ein.
Aus dem Coaching-Ansatz resultiert auch die Primär-Zielgruppe der vorliegenden Publikation. Deren Kommunikationsverantwortung soll einerseits näher umrissen und andererseits auf den Prüfstand alltäglicher Kommunikationspraxis in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gestellt werden. Von diesem Buch im Allgemeinen angesprochen werden aber auch alle, die ihr kommunikatives Selbstverständnis in dieser Zeit und in dieser Welt selbstkritisch hinterfragen wollen. Speziell interessant ist die Lektüre auch für Studierende der Sozialwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften.
In Anbetracht einer kaum mehr zu steigernden Hyperkomplexität in fast allen politischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen, kulturellen und technologischen Fragen ist eine Analyse damit verbundener kommunikativer Wirklichkeiten im globalen Allzeit-Jetzt unserer Augenblicks-Ökonomie genauso relevant wie ein Verständnis fördernder Blick auf das große Ganze unserer so und nicht anders gewordenen Welt.
Rund um die Uhr werden wir mit Informationen geflutet, kanalisiert in immer neuen technologischen Vehikeln mit Kult-Status, die zu besitzen genauso Suchtcharakter entwickelt hat wie die Teilhabe an den kommunikativen Prozessen in den sozialen Medien. Mitmachen, Dabeisein und Dazugehören ist alles. Am besten vierundzwanzig Stunden am Tag und überall, gesteuert in erster Linie von multinationalen Konzernen mit eindeutigen Interessen. Die Grenzen von Raum und Zeit geraten in Bewegung, verdichten sich zur Simultankultur, in der alles parallel geschieht und alles jederzeit von jedem kommuniziert werden kann.
Der Frage nach der Kommunikationsverantwortung gilt in Anbetracht unbegrenzter Kommunikationsmöglichkeiten ein Hauptaugenmerk des Buchs, nicht zuletzt deswegen, weil wir in vielfältiger Hinsicht eine Spaltung der nationalen Gesellschaften, aber auch der so oft herbeigeredeten oder -beschworenen „Welt-Gesellschaft“ mit teilweise einander unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen erleben.
Dass wir nolens volens allerdings alle auch verantwortliche Mitspieler auf dem großen Schachbrett des Lebens und Gelebtwerdens sind und unser Scherflein zum Gelingen oder Misslingen des großen Ganzen beitragen, sei eingangs mit Nachdruck hervorgehoben. Einen archimedischen Punkt außerhalb des Schachbretts gibt es nicht.
Einleitung: Nichts ist älter
als die Zeitung von heute
Die Kommunikation, nicht nur in der persönlichen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder politischen Interaktion zwischen Individuen ein Phänomen mit immenser Tiefenwirkung, sondern auch in Kaffeekränzchen und am Stammtisch wesentlich Mittel zum Zweck der Selbstvergewisserung gegenüber dem eigenen Ich und gegenüber dem anderen, ist zum Selbstzweck mutiert, zu einem lukrativen, auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Geschäft im Zeitalter der PR-Profis, der systematischen Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche und der von multinationalen Großkonzernen beherrschten omnipräsenten sozialen Medien. Information, Meinungsbildung und Unterhaltung, die elementaren Komponenten von Kommunikation, amalgamieren täglich zu Informationstsunamis der Massenmedien einerseits und zu Selbstdarstellungsorgien in den individualisierten Jedermann-Medien andererseits – mit einer zunehmend überbordenden Gewichtung des Unterhaltungs-Faktors, der sich nolens volens auch die Information und die Meinungsbildung einverleibt, nicht selten begleitet von hysterisch anmutenden Erregungsschüben eines aufgeputschten Publikums. Nicht zu vergessen auch die oftmals verzerrende Wirklichkeitsdarstellung der interessengeleiteten Spin-Doctors, die jedwede professionelle und semi-professionelle Kommunikation in Medien jeglicher Art von der Realität des Essenziellen entkoppelt – hinein in ein virtuelles Kaleidoskop des Halbwissens, des Unwissens, der Halbwahrheiten, der Unwahrheiten, der Gerüchte, der Belanglosigkeiten und der Banalitäten. Scheinbar häufen wir in diesem Kaleidoskop immer mehr Wissen an, ohne überhaupt noch unterscheiden zu können, was wahr und was unwahr, was richtig und was falsch, was Fakt und was Fake ist, verlieren in diesem Irrgarten der Wahrnehmungen zunehmend den Überblick und verstehen deswegen notwendig immer weniger von den großen Zusammenhängen unserer Existenz auf diesem Planeten. Schon Sokrates musste in seiner Welt vor 2.500 Jahren konstatieren: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Eine Einsicht, die wir heute modifizieren müssen: „Je mehr ich zu wissen meine, desto weniger verstehe ich.“
Herstellung stetig neuer Wahrheiten
Zur Vermeidung jeglicher Hybris, zumindest in der Theorie, beanspruchte Sokrates noch, im Einklang mit dem Kreislauf der Natur zu leben und allen mit diesem Kreislauf einhergehenden Gewissheiten und Ungewissheiten. Sein Denken war deswegen auch in aller Demut durchdrungen von der Suche nach dem ewig Guten, Schönen und Wahren. Vor allem die Wahrheit hat in unseren Tagen allerdings viele Gesichter, tatsächliche, angenommene und bewusst oder unbewusst herbeigeredete. Wir leben und leiden unter dem Verlust der linearen Zeit und vegetieren stattdessen vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr unter dem Joch des Allzeit-Jetzt einer Augenblicks-Ökonomie, die sich permanentes Wachstum und stete Herstellung von Neuem auf die Fahnen geschrieben hat. Denn das Herstellen, verbunden mit immer kürzeren Produktionszeiten und immer mehr Produkten bei gleichzeitiger Reduzierung der Kosten, mündend in der Forderung nach immer größeren Wachstumsschüben und sich stets vergrößernden Distributionsnetzwerken, ist das Ideal unserer die Welt dominierenden kapitalistischen Wirtschaftsweise in ihren unterschiedlichen Spielarten und Interessensgemengelagen.
Klar, dass auch die Herstellung stetig neuer Wahrheit, vulgo Information als essenziellem Bestandteil einer auf Gewinnmaximierung gepolten Unterhaltungsindustrie, zu der auch die Medien gerechnet werden müssen, diesem Wirtschaftsprozess inhärent