Im Stillen klagte ich die Welt an. Dora Stettler
Im Sommer 1934 werden zwei Mädchen aus der Stadt Bern auf einen abgelegenen Bauernhof in Pflege gegeben. Die Mutter will nach der Scheidung wieder heiraten, dabei stören die Kinder.
Auf dem Hof herrscht ein harsches Regiment, die beiden werden als ‹Gratismägde› ausgenutzt, sie müssen neben der Schule hart arbeiten, erhalten wenig zu essen und werden wegen Kleinigkeiten verprügelt. Und nicht genug: Sie werden verhöhnt, und der Bauer erweist sich als Lüstling. Dann kommen die Missstände aus, die Kinder werden umplatziert. Aber sie kommen vom Regen in die Traufe: Wieder verrichten sie harte Arbeit, dabei werden sie von einer launischen ‹Mutter› gequält. Als nach vier Jahren ihr Vater sie endlich zu sich holen kann, sind die Elf- und Zwölfjährige für ihr Leben geprägt: vom Gefühl, nichts wert zu sein.
Dora Stettler erzählt mit feinem Gespür für die wichtigen Details von all den kleinen und grossen Grausamkeiten ihrer vier Jahre als «Angenommene», die sie bis heute verfolgen.
Dora Stettler, geboren 1927 in Bern. Technische Zeichnerin während 36 Jahren bei Hasler AG und PTT. Nach der Pensionierung begann sie, ihre Geschichte als Verdingkind aufzuschreiben. Dora Stettler lebt in Muri bei Bern.
Dora Stettler
Im Stillen klagte ich die Welt an
Als «Pflegekind» im Emmental
Mit einem Nachwort von Jacqueline Fehr
Limmat Verlag
Zürich
Das elterliche Heim
Meine ersten Erinnerungen stammen aus einer Wohnung im Beundenfeldquartier in Bern. Ich war vier Jahre alt, damals im Jahr 1931.
Es muss im späten Frühling gewesen sein. Mama hatte mir eine frische Schürze angezogen, mich zur Türe begleitet und gesagt: «Nun, Kätheli, kannst draussen spielen gehen.»
Ich lief durch den Vorgarten zum Tor. Eine Hauptstrasse führte an unserem Hause vorbei. Nebst den Personenwagen, die an einer Hand abgezählt werden konnten, verkehrten noch der Verkaufswagen der Migros, der Milchwagen sowie der Strassenspritzwagen, dem zur Sommerszeit die Buben in den Badehosen johlend nachsprangen, um sich an einer kühlen Dusche zu erfrischen. Als Verkehrsmittel hatten wir das Tram, das jeweils einen unverkennbar singenden Ton erzeugte, wenn es bei der nahen Haltestelle anhielt oder wegfuhr.
Da stand ich nun am Gartentor und schaute auf die Wiese, die sich uns gegenüber wie ein Teppich ausbreitete. Sie war nicht grün, sondern leuchtete in einem satten Gelb. Der Löwenzahn stand in voller Blüte.
Diese schöne Blumenwiese wollte ich mir näher ansehen. Hüpfend überquerte ich die Strasse und stand am Rande des Feldes. So etwas Strahlendes hatte ich in meinem kleinen Leben noch nie gesehen. Die Wiese kam mir unendlich gross vor.
Voll Begeisterung pflückte ich etliche von diesen gelben Blumen in meine Schürze und brachte sie nach Hause. Mama zeigte sich erfreut darüber, die verfleckte Schürze zog sie mir augenrollend aus und drückte sie in den hölzernen Waschzuber.
Unsere Mutter war eine zierliche Person. Sie hatte dunkelbraunes, krauses Haar, das ihr anmutiges Gesicht harmonisch umrahmte.
Am häufigsten hielten wir uns in der grossen Wohnküche auf. Links vom Eingang stand der Holz-Kochherd, der vorwiegend im Winter gebraucht wurde, in der übrigen Zeit benutzten wir den Gasherd.
Der Esstisch stand in einer eigens dafür ausgesparten Nische. Der Wand entlang zog sich eine lange Bank. Dort war der Platz für meine Schwester Elsbeth und für mich. Papa sass gleich neben mir am Tischende, Mama mir gegenüber, und mein Bruder Markus nahm den Platz am andern Ende ein. Diese Tischordnung hat sich mir nachhaltig eingeprägt, weil wir dort die schönen und glücklichen Stunden verbrachten, die bald einmal abrupt beendet wurden und nie mehr wiederkehrten.
Papa war mit seiner beträchtlichen Körpergrösse eine dominierende Erscheinung. Er war der grösste Mann in unserer Umgebung. Er war recht impulsiv, und um seinen Reden Nachdruck zu verschaffen, schlug er ab und zu kräftig auf den Tisch. Dann wusste man, wo es lang ging. Wir mochten und liebten jedoch einander, jedes auf seine Weise. In späteren Jahren dachte ich oft mit Wehmut an die gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch.
Oft beschäftigte sich Papa in seiner Werkstatt im Keller, wo er eine Hobelbank aufgestellt hatte. Von seinen Arbeiten ist mir ein wunderschöner Vogelkäfig aus rotem Kirschbaumholz in Erinnerung geblieben, den ich gerne als Spielzeug benutzt hätte.
Mit meinem um vier Jahre älteren Bruder verstand ich mich besser als mit der Schwester, die nur sechzehn Monate mehr zählte als ich. Elsbeth hatte, ähnlich wie Mama, dunkle, gewellte Haare, die ihrem hübschen Gesicht noch ein besonders gewinnendes Aussehen verliehen.
Einen kleinen Knopf nannte mich mein Bruder oft neckisch. Darauf betrachtete ich aufmerksam die Knöpfe an meiner Weste und widersprach: «So klein kann ich doch gar nicht sein. Ich kann ja schon seit geraumer Zeit über den Tisch blicken und den Lichtschalter drehen.»
Wie mein Bruder damals ausgesehen hat, hab ich nur noch nebelhaft in Erinnerung. Natürlich war er viel grösser als ich. Er hatte hellere Haare als wir Mädchen und ein freundliches rundliches Gesicht. Auf der Strasse vergnügte er sich mit einem Reif oder einem Zwirbel. Mit gleichaltrigen Knaben spielte er Versteckspiel, wobei sie das ganze Quartier beanspruchten. Wenn sie im Suchen erfolgreich waren, schrien sie aus vollen Kehlen «Tschuepp, tschuepp, tschuepp» in den Gassen herum, dass es an den Hauswänden widerhallte. Die Namen, die sie sich zuriefen, erinnerten kaum mehr an die richtigen: «Äschu», «Käru», «Housi» und «Pesche», was Ernst, Karl, Hans und Peter heissen sollte. Oft stand ich am Gartentor und beobachtete mit Stolz meinen Bruder, der zu den Grossen gehörte und mit ihnen spielen durfte.
In meiner frühen Kinderzeit gab es einmal einen grossen Aufruhr. Sämtliche Kinder und etliche Erwachsene aus der Nachbarschaft strömten in unsere Strasse. Die Leute streckten ihre Hälse und fuchtelten mit den Armen nach oben. Ein Schatten huschte wie eine dicke Wolke über die Gebäude. Darauf folgte kaum hörbar ein silbern glänzendes Riesending.
«Der Zeppelin, der Zeppelin kommt», schrien die Leute.
Nah und gigantisch glitt er über unser Quartier. Er fuhr so tief, weil er die nahe Allmend angepeilt hatte. Jedermann wollte dabei sein, wenn das imposante Luftgefährt auf Berns Boden niederging. Markus und ich wollten diese Sensation auch nicht verpassen. Damit ich in der Menschenmenge nicht verloren ging, führte er mich an der Hand. Aus den hinteren Reihen konnten wir den Zeppelin betrachten, der sich langsam dem Boden näherte. Zum Greifen nahe schwebte er über unseren Köpfen dahin.
«Warum hat er denn ein Tram angehängt», wollte ich wissen.
«Ach wo, das ist doch kein Tram», grinste Markus, «sondern die Passagierkabine. Die Leute können doch nicht im Gasballon sitzen.»
Völlig überwältigt erzählten wir am Abend den Eltern, wir hätten den Zeppelin gesehen, wie er nah über den Wohnblöcken geschwebt und beinahe die Kamine gestreift habe.
Der Breitenrain und das Beundenfeld waren unser Spielrevier. Wir streiften kaum über den Breitenrainplatz hinaus. Aber einmal unternahm ich mit zwei gleichaltrigen Mädchen, Myrtha und Rita, an einem schönen Sommertag einen Spaziergang. Wir führten unsere Puppen aus wie die Mütter, die sich mit ihren Kindern in den Park begaben, um sie dort, während sie strickten, zu überwachen.
Mit unseren Vehikeln steuerten wir der kleinen Promenade bei der Johanneskirche zu. Dort belegten wir eine Bank, setzten unsere Puppen darauf und betteten indessen die Wagen neu ein. Bei all dem Spielen vergassen wir gänzlich die vorgerückte Zeit. Als gleich drei Kinder aus unserem Wohnblock nicht zum Nachtessen erschienen, kamen die Mütter in grosse Aufregung. Mama lief auf den Polizeiposten und meldete die Mädchen als vermisst. Ein Polizist schwang sich auf das Fahrrad und fuhr die Quartierstrassen ab.
Eine Weile später meldete er den verängstigten Müttern, es kämen da drei Nöggeli plaudernd und gestikulierend den Breitenrainstutz herauf. Um die Kinder nicht zu erschrecken, habe er sie nicht angesprochen, sie jedoch eine Weile im Auge behalten. Diese Puppenmütter würden demnächst in unsere