Die Wohlanständigen. Urs Schaub
line/>
Über dieses Buch
Schreckliche Zeiten für Kommissar Michel: Kalter Vorfrühling mit Biswind, am Ufer des kleinen Sees dümpelt eine männliche Leiche mit einem Messer im Rücken, sein Freund und Helfer Simon Tanner macht Urlaub im warmen Marokko. Im Büro treibt ein neuer Polizeichef sein Unwesen und hat ihm eine junge Assistentin aufgebrummt. Immerhin, sie stellt sich als mehr als umgänglich heraus, ist mehr als fit im Kopf, und ihr Appetit hält dem von Michel stand.
Im Nu hat der neue Polizeichef einen Täter gefunden, einen vorbestraften Albaner, dessen DNA auf dem Messer gefunden wurde. Zum Glück kommt endlich Tanner zurück. Die beiden Freunde finden schon bald seltsame Unstimmigkeiten: Was hat die noble Kanzlei an bester Adresse mit dem albanischen Clan in der anonymen Agglo zu tun? Und was mit den cyberkriminellen Wirtschaftsaktivitäten, die offensichtlich im Gang sind? Das verblüffende digitale Handwerk der neuen Assistentin kommt da wie gerufen.
«Jetzt können sich die skandinavischen Krimiautoren warm anziehen, denn jetzt zeigt mal wieder ein Schweizer, wie man Spannung und Stimmung macht!» Schweizer Illustrierte
Die Tanner-Kriminalromane
«Tanner»
«Das Gesetz des Wassers»,
«Wintertauber Tod»
«Der Salamander»
«Die Schneckeninsel»
Foto Yvonne Böhler
Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Urs Schaub lebt in Basel, macht Leseförderung und betreibt eine Schreib- und Buchwerkstatt für Kinder. Im Limmat Verlag ist nebst den Krimis «Das Lachen meines Vaters» lieferbar.
Urs Schaub
Die Wohlanständigen
Ein Tanner-Kriminalroman
Limmat Verlag
Zürich
eins
Die Leiche lag im seichten Wasser. Der nächtliche Sturm hatte sie offenbar angeschwemmt. Wäre sie im Schilf gestrandet, das rechts und links vom kleinen Sandstrand dicht an dicht stand, wäre sie vielleicht nicht so bald entdeckt worden. Die Turnschuhe mit dem deutlichen Markenzeichen zeigten gegen den Strand. Der Kopf war im Sand und Schlamm halb begraben. Die Augen waren weit geöffnet, wirkten groß und erstaunt, als ob sie immer noch nicht begreifen konnten, warum sie im Wasser lagen. Kleine, dunkle Fische umkreisten eilig seinen Kopf. Dann und wann streiften sie sein Gesicht, als ob sie an seinen Wangen schnupperten. Die Bewegungen der Fische folgten offenbar einem Muster, das Michel aber nicht durchschaute. Obwohl ihre Bewegungen und Berührungen etwas Zärtliches hatten, schauderte es ihn ein wenig. Hatte er heute Nacht nicht einen Traum gehabt, wo die Fische sogar durch sein Gesicht hindurchgeschwommen waren? Er war schweißgebadet aufgewacht und hatte die Fenster aufgerissen. In der Nacht hatte es furchtbar gestürmt. Gewohnheitsmäßig hatte er das Radio angeschaltet. Die Nachrichten hatte er verpasst, dafür wurde gerade mit monotoner Stimme der Wetterbericht heruntergeleiert.
Das Tief, das in der vergangenen Nacht den Sturm brachte, liegt derzeit über der nördlichen Ostsee und verlagert sich im Laufe der Nacht auf Montag weiter ins Baltikum. Dabei schwächt es sich ab. Auf seiner Rückseite gerät Mitteleuropa unter den Einfluss polarer Kaltluft, die über Skandinavien nach Süden geführt wird. Über Westeuropa und dem Nordatlantik liegt eine Hochdruckzone, an deren Ostseite dieser Vorstoß begünstigt wird.
Aha. Bisenlage!
Michel seufzte.
Mit anderen Worten: Es würde also weiterhin frostige Nächte und kühlwindige Vorfrühlingstage geben. Aber immerhin – der Frühling war in Sicht.
Dann klingelte das Telefon, das ihn zum See rief.
Michel blickte stirnrunzelnd zur anderen Seeseite, woher der kühle Wind kam und die Wasseroberfläche zum Zittern brachte und schließlich so aufkräuselte, als ob das Wasser von einer Gänsehaut überzogen wäre. Michels Haut reagierte auch. Er fröstelte, und seufzend knöpfte er sich den Kragen seines Regenmantels zu. Er hatte heute Morgen etwas zu voreilig den Winter- gegen den Regenmantel getauscht. Getäuscht durch die Sonne, die noch keine Kraft hatte, obwohl sie an der felsigen Kante am Gebirge nördlich des Sees den Schnee schon genau soweit abgeschmolzen hatte, dass bereits A A R A U deutlich zu lesen war. Ein zufälliges Zusammentreffen von Gesteinsformen und Schneeschmelze ließ jedes Jahr für einen Moment deutlich diese Buchstabenfolge erscheinen – früher ein traditionelles Zeichen, dass die Mütter den Buben im Städtchen erlaubten, ab sofort kurze Hosen tragen zu dürfen – und den Mädchen Kniesocken.
Durch den kühlen Wind hielt sich wenigstens der Schweiß in Grenzen, der gewöhnlich von seiner Stirn floss. Dennoch zog er gewohnheitsmäßig eines seiner windelgroßen Stofftücher aus der Manteltasche und wischte sich über Kopf und Stirn.
Er ging einige Schritte durch den Sand, weg vom Wasser, und blickte um sich.
Die Leiche lag am Sandstrand einer kleinen Badeanstalt, von dem nur wenige außerhalb des Dorfes wussten, deswegen war sie auch im Hochsommer keineswegs überlaufen. Er wusste das von Tanner, der in Sichtweite zum Strand wohnte und regelmäßig hier baden ging. Er hatte ihm schon öfter in den höchsten Tönen von diesem poetischen Ort vorgeschwärmt. Michel musste innerlich Abbitte leisten, denn er hatte immer gedacht, sein Freund übertreibe. Es war tatsächlich ein ungewöhnlich schöner Ort, altmodisch und wie aus der Zeit gefallen.
Die dreiunddreißig Badekabinen, die fünfzig Meter vom Strand aufgereiht nebeneinanderstanden, waren durch ein langes, malerisch bemoostes Ziegeldach verbunden, unterbrochen nur durch einen Durchgang, durch den man auf die hintere Wiese blickte. Die grauen Kabinen hätten schon längst einen neuen Anstrich nötig, aber dass es sie in dieser Form überhaupt noch gab, grenzte an ein Wunder – vor allem, wenn man an all die Verschandelungen in der Gegend und an die unmäßige Bau- und Renovationswut der Zeit dachte.
Michel brummte vor sich hin.
Wenn Tanner wüsste!
Er blickte zu der rund dreihundert Jahre alten Villa, die französische Architektur und ländliches Wohlbehagen vereinte und mit ihrem mächtigen Dach majestätisch über dem See thronte. Tanner würde erst in einer Woche zurückkehren. Er beneidete seinen Freund, der seit zwei Wochen in Marokko weilte. Da war es sicher wärmer.
Er zog seinen Mantel enger.
Sein Freund war vor Jahren als Persona non grata ausgewiesen worden. Letzthin hatte sich der jetzige König überraschend eines Besseren besonnen und ihn nach Marokko eingeladen, als Wiedergutmachung sozusagen. Das Ganze wurde jetzt als großes Missverständnis dargestellt.
Stoffel, der sich Michel genähert hatte, stieß ihn leicht an die Schulter.
Äh, können wir die Leiche jetzt aus dem Wasser holen, Chef?
Er zeigte entschuldigend in Richtung des kleinen Hafens.
Der Gerichtsmediziner ist im Anmarsch, und die Spurensicherung ist auch da.
Ja, ja. Von mir aus. Wer kommt von der Gerichtsmedizin?
Dr. Kramer.
Gut. Das ist der Beste. Hast du das Gelände abgesperrt?
Ja, Chef. Alles erledigt.
Wo ist die Frau, die ihn entdeckt hat?
Stoffel zeigte in Richtung Badehäuschen.
Sie sitzt dort.
Michel nickte.
Wie heißt sie?
Meer.
Wie bitte?
Michel blickte Stoffel verständnislos an.
Ja.