Genderlinguistik. Helga Kotthoff

Genderlinguistik - Helga Kotthoff


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diesem Hintergrund indiziert ein Telefonat, in dem sich lang und breit über Beziehungen ausgetauscht wird, eine genderisierte Tradition. Am Telefon betreiben die Mädchen zwar „social engineering“, aber auch in einer historisch eher neuen Ausrichtung. Wir können dem zustimmen, was Eckert (2003, 384) über US-Mädchen schreibt:

      The entire heterosexual enterprise at this point is about alignments within the cohort rather than about individual boy-girl relationships. The pairs are brokered by members of the crowd, […] And it is girls who do the brokering. Girls control the heterosexual market – they decide who will go with whom, they arrange meetings and alliances, and they negotiate desirability.

      Die nüchterne Abschätzung äußerer und statusbezogener Qualitäten für die Paarbildung in Frage kommender Jungen kann durchaus als Anleihe am traditionell Männern attribuierten Verhalten gesehen werden. Die Mädchen geben sich als strategische Spielerinnen auf dem Paarbildungsmarkt. Die hohe Relevanz dessen bleibt als traditioneller Genderindex bestehen, die konstruierten Spielregeln ordnen den Mädchen aber aktive und initiative Rollen zu. Der alten Differenzlinie zwischen dem wählenden Mann und der ausgewählten Frau begegnen wir nicht mehr. Über IndexikalisierungenIndexikalisierung von historisch männlich verorteten Verhaltenskomplexen wird die kommunizierte Identität des altersspezifischen Mädchen-Seins zu einer besonderen Bricolage (Stilbastelei). Um solche Bricolagen verstehen zu können, muss man die Geschichte eines Verhaltensbereichs kennen (mehr zum Bricolage-Konzept bei Galliker 2014). In der Genderetikette galt über Jahrhunderte hinweg der Mann als der aktiv wählende Part und die Frau hatte seine Wahl geschickt und verdeckt auf sich zu lenken (Burmann 2000). Sie hatte seine Annäherungsversuche abzuwehren, aber so, dass der Mann aus der Art der Abwehr seine Chancen herauslesen konnte.

      2.3.5 Soziale StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.) über Genderindizien

      Wir fassen zusammen, dass unter doing gender einerseits alle PraktikenKommunikative Aktivität verstanden werden, mittels derer die Geschlechter lange eingespielte Unterschiede anzeigen. Das ist im Bereich der äußeren Gestaltung stark der Fall. Sobald sich beispielsweise in einem Kleidungsstück Spitze befindet, ist dies eines für Frauen und hilft, Frau-Sein anzuzeigen. Das Tragen von Make up und Schönheitshandeln (Degele 2004, 2006) sind weiteren Formen, Weiblichkeit zu tun. Innerhalb der vielen Abstufungen in der Kommunikation von Weiblichkeit kann vor allem über Arbeit am Äußeren der Körper sexuell aufgeladen werden. Diese PraktikenKommunikative Aktivität sind mehr oder weniger exklusiv. Sie sind unterschiedlich stark habitualisiert, sodass sie nicht unbedingt in den Vordergrund der Interaktion treten. Komplimente können sie allerdings schnell in diesen Vordergrund holen. Im Bereich der Interaktion gibt es kaum geschlechtsexklusive Verhaltensweisen, die allein direkt auf Gender verweisen, allerdings geschlechtspräferentielle, die im multimodalen Verbund als Genderisierung interpretiert werden können.

      Eine bemerkbare Relevantsetzung von Gender in der Interaktion kann als „doing“ verstanden werden (enges Konzept von doing gender). Das ist beispielsweise der Fall, wenn Männer sich mittels besonderer PraktikenKommunikative Aktivität, die historisch bereits als Männerpraktiken identifiziert wurden, als männlich inszenieren. Dazu gehört in einigen Kulturen z.B. das Aufführen ritueller, poetischer und obszöner Angriffsspiele wie verbale Duelle (z.B. Labov 1972b; Dundes et al. 1972; Kotthoff 1995a). Auch Thematisierungen und Aufführungen von Geschlechteretikette gehören dazu (Der Herr gibt der Dame Feuer).

      Viele Verhaltensweisen und sprachliche Merkmale (also sehr unterschiedliche Größenordnungen) können einen Genderindex ergeben, der an einer spezifischen sozialen StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.) teilhat. Wenn sich beispielsweise Jungen untereinander schmutzige Witze erzählen und beleidigende Frotzelangriffe austauschen, dann inszenieren sie damit eine traditionelle Männlichkeit. Solche PraktikenKommunikative Aktivität gehören zum historisch überlieferten Repertoire der Männlichkeit (Fine 1990). Wenn Mädchen diese Verhaltensweisen zeigen, integrieren sie diese in ihr ansonsten mehr oder weniger weiblich konnotiertes Verhaltensrepertoire. Sie können damit die Identität eines widerständigen, unangepassten Mädchens aufführen. Im Ansatz der IndexikalisierungIndexikalisierung werden sprachliche Merkmale und kommunikative PraktikenKommunikative Praktik innerhalb von Sprechgemeinschaften unter einer historischen Perspektive interpretiert, bzw. die in der Sprechgemeinschaft vorherrschende Sicht wird rekonstruiert. Erst vor dem Hintergrund der historischen Einordnung der Praktik oder des Merkmals kann sie dann im Rahmen einer Selbst- und Fremdstilisierung „gelesen“ werden. Gender wird so als Bündel von Stilisierungen gesehen. Niemand muss die gesamte Palette der Männlichkeits- oder Weiblichkeitsmerkmale und -praktiken ausschöpfen. Außerdem sind auch soziale Kategorien wie Alter, Schicht oder Kulturzugehörigkeit an StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.) gebunden. Über Anleihen hüben und drüben kann man sich im Genderbereich gekonnt dazwischen ansiedeln. Auch bei Transgender-Personen schlägt wenig Natur durch (wenngleich dies von denselben oft behauptet wird), sondern vor allem semiotische Kenntnisse. Wir bleiben also Goffmans dramatologischer Perspektive treu.

      2.3.6 Kommunikation von Identitäten

      Wir stilisieren uns nicht einfach als Frau oder Mann, sondern sehr viel spezifischer als eine „performable persona“ (Agha 2007, 160). Wenn wir eine bestimmte Kleidungs- und Sprechsemiotik an den Tag legen, machen wir uns zu einem spezifischen sozialen Typ, bedienen uns also zunächst an einem historisch bereits zur Verfügung stehenden Zeichenrepertoire, um den Typus aufzuführen, der für andere als solcher erkennbar wird (Bucholtz 1999). Der Zeichengebrauch ist insofern reflexiv, als er soziale Typensoziale Typisierung so auch durch Bestätigung fortleben lässt. Schon Kindergartenkinder wissen beispielsweise, wie sie in ihren Rollenspielen Polizisten, autoritäre Mütter und quengelnde Kleinkinder aufführen. Sie können in diesen Rollen Anweisungen erteilen oder weinerlich tun, je nachdem. In der Terminologie von Agha (2007) führen sie metapragmatischemetapragmatisch Modelle auf, die sie über typische Äußerungen (die Mutter äußert z.B. Mahnungen), typische Prosodie und Kleidungsstile gestalten (in Cahills Aufnahmen legen sich Kinder für die Mutterrolle eine Kette um den Hals oder sie tun, als würden sie rauchen). Transgender-Personen stilisieren ihre Spezifik über bestimmte Kombinationen aus bekannten semiotischen Genderrepertoiren (Barrett 2017). Die Rekonstruktion von Typisierungsprozessen (z.B. typischem Vaterverhalten in der Familie), in die sich Machtbeziehungen einschreiben, fassen wir entschieden nicht als „Zitat“ im Sinne von Butler (1991, 217), die Geschlechterfestschreibung als im Diskurs des performativen Akts konstituiert sieht, das heißt durch ständige repetitive PraktikenKommunikative Aktivität. Wenn ich jemanden zitiere, schreibe ich mir die Worte oder die Aufführung nicht selbst zu, verhalte mich dazu mit Distanz. Das Konzept der sozialen StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.), das wir hier stattdessen verwenden, integriert durchaus Verfahren der Imitation, die den Butler’schen Zitaten ähnlich sein könnten; unten entfalten wir, wie wichtig es für die wissenschaftliche Rekonstruktion ist, dass Individuen über das Imitieren in der Regel hinausgehen.

      2.3.7 Stil-Basteln – Gender-Basteln

      Sprachverhalten und Selbststilisierungen hat vor allem die heutige Jugendsprachforschung als soziale Positionierungsaktivität fest im Blick. Jugendliche nutzen ihr Wissen um sprechstilistische Zuordnungen, um sich als ein bestimmter Typus zu entwerfen, aber auch, um Typen zu zitieren, zu karikieren und mit Zuordnungen zu spielen. Das Sprachrepertoire von Jugendlichen bildet oft ein komplexes und dynamisches Spektrum „ererbter“ und „erworbener“ Zugehörigkeiten und Abgrenzungen einerseits ab (als Produkt von Aneignungs- und Auswahlprozessen), wie es zugleich ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, um kulturelle Identität immer wieder neu zu definieren, zu bestätigen, anzupassen und kontextbezogen zum Ausdruck zu bringen. Verschiedene Soziolinguist/inn/en (wie etwa Bierbach/Birken-Silverman 2014) zeigen wie Sprachvarietäten, Aktivitäten, in denen sich die Jugendlichen engagieren (in ihrem Fall Break-Dance), die Gestaltung ihres Äußeren und vieles mehr, zusammenwirkend kontextuelle Bedeutungen produzieren, Beziehungen zwischen den Interaktanten abstecken und diese in ihrem sozialen Umfeld positionieren. Gender ist dabei eine relevante, aber verwobene und vermittelte Größe.

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