Genderlinguistik. Helga Kotthoff
wo Männer an jedes Verb (nicht nur in der 1. Person) ein -s zur eigenen Geschlechtsmarkierung anfügen und Frauen bestimmte Vokale nasalieren (Günthner/Kotthoff 1991, 30f.).
Zusammenfassung
Während weibliches und männliches Sprechen kaum phonologische Unterschiede birgt, existieren umso mehr prosodische. Die StimmeStimme wird im Alltag zwar als natürlich und körperbezogen aufgefasst, doch hat sie als weitgehend konstruiert zu gelten, wie historische Stimmveränderungen und kulturvergleichende Unterschiede bestätigen. Natürliche Tonhöhenüberschneidungen zwischen Frauen und Männern werden – in kulturell unterschiedlichem Ausmaß – verringert, beseitigt oder gar polarisiert. Deutliche Unterschiede bestehen in der ‚Melodie‘, d.h. im Tonhöhenverlauf, der bei Männern i.d.R. flacher ausfällt, bei Frauen bewegter und modulationsreicher. Frauenstimmen werden Kinderstimmen angeähnelt und wirken emotionaler. Lange Zeit waren Frauenstimmen von der Bekanntgabe wichtiger Nachrichten ausgeschlossen. Mittlerweile haben sich die Frauenstimmen zahlreicher westlicher Kulturen deutlich abgesenkt. Anders in Japan, wo die höchsten Stimmgrundfrequenzen gemessen werden. Dies untermauert den Konstruktionscharakter der StimmeStimme.
4. Nominalklassifikation: Flexion und Genus
Das Deutsche ist eine morphologisch komplexe Sprache. Bei den Substantiven (Nomen) praktiziert es eine zweifache sog. Nominalklassifikation: Jedes Substantiv gehört erstens einer bestimmten Deklinationsklasse (oder Flexionsklasse) und zweitens einem bestimmten Genus an. Damit ist nichts über die Wortbedeutung ausgesagt, es handelt sich um zwei rein (inner)sprachliche Klassifikationen. Während die erste Klassifikation unter der Wahrnehmungsschwelle liegt, liegt die zweite darüber: Man weiß, dass es drei Genera gibt (und macht sie meistens am Artikel der, die, das fest). Weniger bekannt ist, dass unsere Substantive unterschiedlich flektieren und dementsprechend verschiedenen Flexionsklassen angehören. Das Englische hat beide Klassifikationssysteme komplett beseitigt, andere germanische Sprachen haben sie vereinfacht, das Deutsche hat sie erhalten, teilweise sogar ausgebaut und nutzt sie zur Markierung von Sexus und Gender.
4.1 Deklination – Genus – Sexus – Gender
Die Genderlinguistik behandelt allenfalls die Genusklassifikation und fragt nach möglichen Bezügen zum Geschlecht der bezeichneten Person. Ist nur das biologische, meist an den GenitalienGenitalien orientierte Geschlecht gemeint (was auch für die hier ebenfalls zu berücksichtigenden TiereTiere gilt), spricht man von Sexus, während Gender die daran andockenden PraktikenKommunikative Aktivität der Geschlechterdarstellung (doing gender) meint (Kap. 1 und 2). Die linguistische Genusforschung, die hier rezipiert wird, praktiziert diese Sexus-Gender-Differenzierung jedoch nicht. Sie spricht fast ausschließlich von Sexus (engl. sex). Da viele Termini wie Genus-Sexus-Kongruenz fest etabliert sind, werden wir diesen biologistischen Terminus in diesem Kontext beibehalten.
Die meisten Menschen glauben schon lange an zwei Geschlechter und praktizieren sie hingebungsvoll. So nimmt es nicht wunder, dass dieses binäre Konzept tief in die deutsche Grammatik und Lexik eingesickert ist. Diese sedimentierten Strukturen beschreiben und analysieren wir im Folgenden. Das Genus- und das Flexionsklassensystem bilden besonders tiefe Schichten der Grammatik. Da wir ständig Substantive verwenden, die immer einem Genus und einer Flexionsklasse angehören, replizieren wir auch permanent die darin enthaltenen Geschlechterunterscheidungen und -ordnungen.
Wir beginnen mit dem linguistisch eher vernachlässigten Klassifikationssystem der Deklination. Hier fragen wir nach seinen Bezügen zum grammatischen (Genus), zum menschlichen und zum tierischen Geschlecht. Da Deklination und Genus partiell interagieren, sei schon hier vorausgeschickt, dass es einen sehr engen Bezug zwischen Geschlecht und Genus gibt: Fast alle Frauenbezeichnungen sind feminin und Männerbezeichnungen maskulin. Die Nominalklassifikation der Deklination wurde bislang von der feministischen Linguistik übersehen. Da diese sprachaktivistisch ausgerichtet ist, nimmt sie eher solche Phänomene in den Blick, die ‚kurier-‘ oder ‚justierbar‘ erscheinen. In diesen Bereich fallen Flexionsklassen nicht. Eine Genderlinguistik muss auch diesen sehr tief liegenden Bereich der Grammatik beleuchten. Denn die Grammatik bildet das Zentrum, den eigentlichen Stoff, die Identität einer Sprache.
4.2 Deklination und Geschlecht
Das Deklinations- oder Flexionsklassensystem stellt eine sehr alte und grammatisch tief angelegte, eher „versteckte“ Klassifikation dar, die sich Bewusstsein und Reflexion noch mehr entzieht als die Genusklassifikation. Deklinationsklassen manifestieren sich noch subtiler: Während Genus, obwohl jedem Nomen inhärent, am Nomen selbst nicht erkennbar sein muss, dafür, umso sichtbarer, auf sog. Genusträgern wie Artikeln und Pronomen zum Ausdruck kommt (d-er Hund: m.), wird die Zugehörigkeit zu einer Deklinationsklasse am Nomen selbst markiert, aber sehr indirekt: Sie manifestiert sich (heute) in der Art und Weise, wie Substantive nach Kasus und Numerus flektiert werden, genauer, welche Allomorphe (d.h. Morphemvarianten, Affixe) sie hier verwenden. Sie sitzt also auf anderen Kategorien (Numerus, Kasus) auf und verhält sich damit parasitär.
Beispielsweise kann man den Plural mit -e (Hunde), -en (MenschenMensch) oder -er (WeiberWeib) bilden, auch kommen manchmal Umlaute hinzu (Füchse), manchmal nicht (Luchse). Außerdem gibt es Nullplurale (Lehrer) und reine Umlautplurale (Väter). Diese Verteilung ist nicht willkürlich, sondern sie folgt strikt der Deklinationsklassenzugehörigkeit des Nomens. Das Deutsche hat (je nachdem, wie man zählt) ca. acht Deklinationsklassen, während das Englische seine Deklinationsklassen komplett beseitigt hat; letzte Zeugen sind irreguläre Plurale vom Typ men, women, oxen, mice, feet.
Im Deutschen reicht es zur Bestimmung der Deklinationsklasse aus, den Genitiv Singular und den Nominativ Plural als die beiden Leit- oder Kennformen heranzuziehen, denn die gesamte restliche Flexion ist daraus ableitbar. Dabei interagiert diese Nominal- mit der Genusklassifikation, wenngleich keineswegs eng oder gar eins zu eins (s. Nübling 2008). Schließlich gibt es mehr Deklinationsklassen als Genera, und manche Deklinationsklasse beherbergt Substantive mehrerer Genera und umgekehrt. Interessanterweise teilen sich Maskulina und Neutra mehrere Deklinationsklassen, während Feminina immer eigene Klassen bilden, also (fast) nie mit Maskulina oder Neutra koalieren. Das war früher nicht so und hat sich erst in den letzten Jahrhunderten so ausdifferenziert und zugespitzt (Nübling 2008). Man spricht hier von der Entstehung einer Femininum/Nicht-Femininum-Opposition (Bittner 1994, 2003; Eisenberg 2013a). Nur die relativ junge Klasse mit s-Plural umfasst alle drei Genera (Unis, Studis, Abis), wobei die Feminina keinen s-Genitiv bilden (die Kosten der Uni-Ø) und sich insofern doch wieder von den Maskulina und Neutra abheben. Im Folgenden umreißen wir nur einige wenige Deklinationsklassen.
Die Attribute stark, schwach und gemischt beziehen sich ausschließlich auf die Form der Endungen: Schwache Flexion bedeutet n-haltige Endung sowohl im Gen.Sg. als auch im Plural (des Affe-n – die Affe-n), gemischt n-haltige Endung nur im Plural (der Frau-Ø – die Frau-en, des Ohr-s – die Ohr-en), stark weder n-haltige Endung im Singular noch im Plural (des Mann-es – die Männ-er).
4.2.1 Gemischte und starke Feminina
Die sog. gemischten Feminina stellen eine sehr große Deklinationsklasse dar, die fast sämtliche Feminina beherbergt. Sie bildet den Gen.Sg. mit Null und den Plural mit -(e)n: die FrauNom / der FrauGen / die Frau-enPl, die DameDame / der Dame / die Dame-n. Endet das Nomen auf -e [ǝ], tritt nur -n hinzu, andernfalls silbisches -en. Nicht nur diese Klasse, sondern alle Feminina verzichten heute auf jedwede Kasusmarkierung. Es existiert nur eine Singular- und eine Pluralform. Auch der Artikel (und das Personalpronomen)