Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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Schauplatz gewählt hat, übersetzt Hugos Hilflosigkeit und Isolation in Bilder einer verlassenen Festung und eines leblos-leeren Stadtzentrums, die in ihm die Frage nach „ihrer“ Identität aufkommen lassen, die er indes nicht angemessen zu formulieren vermag. Verschärft werden die Verzweiflung und Vereinsamung Hugos noch dadurch, dass in der Mittagszeit der elegante Vincent erscheint, in dessen Nähe er sich selbst als „[…] épais, maladroit […]“5 empfindet. Ausgerechnet in einem Moment, da François in den Hintergrund zu rücken scheint, glaubt Hugo zu erkennen, dass ihm in Vincent ein Rivale gegenübertritt, der sich ihm wie eine „[…] tour de garde ronde et médiévale, de pierre pleine […]“6 in den Weg stellt.

      Überdies spiegelt das konfrontative Gegenüber der Sitzordnung die Erstarrung wider, in der Hugos Werben um „sie“ ins Leere läuft: „Une seule chose lui tenait à cœur, lui parler, et au-delà, la saisir, et au-delà, la garder. Ils se plaçaient d’emblée de part et d’autre et leurs mains posées signifiaient l’immobile, l’image nette du statu quo.“7 Mit seinem schließlich in großer Schroffheit und Direktheit im Gespräch mit „ihr“ formulierten Ansinnen, das sonntägliche Quartett aufzulösen und auf ein aus ihm und „ihr“ bestehendes „Duett“ zu reduzieren,8 brüskiert er nicht nur sein Gegenüber, vielmehr richtet er eine Barriere auf, die durch ihn selbst verläuft, insofern sie ihn blind werden lässt für die fatale Wirkung seiner Worte und seines Handelns. Bedient sich die Erzählinstanz verschiedentlich eines Spiegels, um die gleichermaßen unwirklich und authentisch wirkende Präsenz der „Frau“ zu vermitteln, so versinnbildlicht sie die Verblendung Hugos, indem sie vor seinen Augen eine dicke, beschmutzte, für ihn undurchsichtige und unzerstörbare Scheibe errichtet, die – ein Gegenbild des Spiegels – für Hugo auf dem Weg zu „ihr“ ein größeres Hindernis darstellt als François und Vincent oder aber auch „sie“ selbst, die ihm im Café gegenüber sitzt:

      Entre ce qu’il avait imaginé et ce qui se produisait, entre lui et ce qu’il voulait dire, une vitre épaisse était tombée, sale, opaque, il avait beau tendre le poing pour heurter, vouloir casser […] et l’obstacle devenu invisible prenait plus de place que François, que Vincent, plus que les deux ensemble, plus de place encore qu’elle, en face de lui […]9

      Die Erzählinstanz schließt die „Café-Szene“ der Begegnung zwischen Hugo und „ihr“, indem sie Hugos blinde Entschlossenheit, sein Ziel zu erreichen, mit einem jener Bilder beschreibt, mit denen sie die Szene eröffnet hat. So wie „sie“ Hugo mit ihren Blicken durchbohrte, quasi in ihn „hineintauchte“, so versucht nun Hugo vergeblich, nach seiner plumpen Frage „Que faites-vous avec François?“10 „sie“ für sich mit seinen Blicken gefangen zu nehmen. Dass Hugo den Blick für die Realitäten und damit jegliche Bodenhaftung verloren hat, wird in einer isotopischen, vom Wasser bestimmten Bildfolge dargestellt, die zeigt, wie der sich nicht auf festem Grund bewegende, sondern „schwimmende“ Hugo erfolglos nach einem sicheren Halt sucht: „À son tour de plonger, mais malgré son élan, l’intensité de ses yeux dans les siens, il avait beau nager, toujours au plus profond, traverser les étendues bleues et puis vertes puis bleu sombre […] il n’avait – il n’y avait – aucune prise.“11

      Le salon d’une réception – Annäherung zwischen Gilles und „ihr“

      Zu den für die Hintergrundhandlung wichtigen Schauplätzen in Paris gehören auch jene Räumlichkeiten eines Empfangs, in denen Gilles auf „sie“ trifft und sich spontan für sie begeistert.1 Sie durchschreitet den Salon, der „[…] périlleux comme un étang gelé […]“2 ist und sie zwingt, ihre Bewegungen und Gesten zu kontrollieren. Die Erzählstimme lässt den „Parcours“ an einer zweiflügeligen gläsernen Tür beginnen und an dem den Kamin verdeckenden Buffet enden. Bezeichnenderweise trifft Gilles in der Nähe der gläsernen Tür auf „sie“, um ihr – […] devant le grand miroir qui répétait la scène […] – zu erklären: „Je vous tiens […] je ne vous lâche plus.“3 Nachdem „sie“ sich für eine Weile absentiert hat, kehrt sie in Begleitung François’ zurück, den sie Gilles vorstellt. Gilles hat den Eindruck, als ob „sie“ François „[…] comme une évidence, un rempart“4 betrachte, und er fragt sich, wovor sie Angst haben mag. Er spricht sie dann „[à] l’abri de l’immense miroir qui reflétait la scène“ mit den Worten „Vous êtes belle […]“ an. Der Spiegel wacht wie eine „[…] tour de garde solitaire […]“ über die Gesellschaft, und das Gewirr von Stimmen hüllt wie ein unsichtbares, durchsichtiges Gewebe – une toile diaphane – alle Gäste ein, die auf diese Weise „[…] opaques, résistants, inaccessibles […]“ werden. Gilles wendet sich nun erneut an „sie“ mit den Worten: „[…] vous êtes belle […] l’êtes-vous plus de ce côté ou de l’autre, je ne sais pas.“ Auf ihre Frage: „L’autre côté de quoi?“ antwortet er: „Du miroir.“5 Als er sie dabei beobachtet, wie sie sich im Spiegel betrachtet, gewinnt er den Eindruck „[qu’] [i]l émanait d’elle quelque chose d’irréel, d’étranger, qu’il ne reconnaîtrait nulle part“ und er ergänzt seine Antwort mit den Worten: „De l’autre côté […] j’y serais entré, avec vous.“6 Ausgerechnet Gilles, der Theaterregisseur, reagiert damit auf die von „ihr“ erzeugte, durch die Virtualität des flüchtigen Spiegelbildes verstärkte Ausstrahlung des spielerisch Unwirklichen, indem er den Wunsch äußert, mit ihr gemeinsam durch einen Schritt „hinter den Spiegel“ in die Wirklichkeit zu gelangen. Damit wird jedoch auch verständlich, dass, nachdem François gegangen ist, zunächst „[…] le refuge d’un miroir […] les renvoyait chacun à sa solitude“7. Erst nachdem sie zu den gläsernen Türen zurückgekehrt sind, wenden sie ihren Blick in die Zukunft, indem „sie“ ihm verspricht, sein Theaterstück, in dem sie eine Rolle übernehmen soll, zu lesen.8

      So erklärt sich, dass die Erzählstimme im Rückblick auf die theaterhaft gespiegelte Szenerie des Abends nur fragmentarische Erinnerungen an sich rasch verflüchtigende Eindrücke – [d]es débris d’une soirée ruinée par l’éphémère […] – 9 notiert. Erkennbar ist jedoch auch, dass aus der Sicht Gilles’ zumindest etwas Konkretes, ein Versprechen, Bestand haben mag.10

      Le café de l’avenue calme und Hugos Wohnung – Hugos Abschied von „ihr“

      Als „sie“ und Hugo kurz vor ihrer Abreise nach Brasilien noch einmal im „café de l’avenue calme“ – ihrem üblichen Treffpunkt – zusammenkommen, sprechen sie zunächst über die „réunions du dimanche“ des Quartetts, die auf „ihre“ Anregung zurückgehen.1 Als Hugo „ihr“ gesteht, dass er nur „ihretwegen“ daran teilnehme,2 antwortet sie sinngemäß, dass dies für die anderen genauso gelte.3 Im Übrigen erklärt „sie“, dass „sie“ der „regards de biais“, konkret: der ihm, Hugo, geltenden Verdächtigungen ihres Mannes François, der amusierten Beobachter­attitude ihres Bruders Vincent und seiner, Hugos, zur Verschleierung seiner Verliebtheit vorgetäuschten Kälte überdrüssig geworden sei und die sonntägliche Veranstaltung, die es nicht länger geben werde, für reine Heuchelei halte.4 Nicht ein einziges Mal habe „sie“ den Eindruck gehabt, dass er in „sie“ verliebt gewesen sei, nie habe er mit „ihr“ aufbrechen (partir) wollen und sich für „sie“ Zeit genommen. Als Hugo erwidert, dass „sie“ nie bereit gewesen sei, das Ende eines Nachmittags mit ihm in seiner Wohnung zu verbringen, fragt „sie“ ihn, ob er beim „Verliebtsein“ sofort „an das Bett denke“.5 Als Hugo auf „ihre“ Frage, ob er jeden Sonntag mit dieser Hoffnung gekommen sei, mit „Nein“ antwortet, demütigt und verletzt sie ihn mit schneidenden Worten.6 Völlig überrascht, aber zugleich sehr glücklich reagiert Hugo, als „sie“ ihm in eben diesem Moment vorschlägt: „C’est bien ça que tu veux, alors écoute, viens, emmène-moi chez toi.“7 In seiner Wohnung, so scheint es, beglückt sie ihn, indem sie sich ihm hingibt und ihm sagt, ihn zu lieben, doch bereits beim Abschiedskuss wird ihm klar, dass „[c]ette rencontre était faite pour s’effacer et s’il la retenait, ce serait pour subir l’humiliation brûlante de s’être laissé duper.“8 Und als sie bei einem – angeblich unter Zeitdruck getätigten – Anruf am Tag danach den Eindruck erweckt, als wolle sie das Geschehene ungeschehen machen, gelangt Hugo, wie die von der Erzählinstanz gewählte Form der internen Fokalisierung eindeutig


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