Götterfunken. Chris von Rohr
das nicht ein Sterben enthält. Es fällt in jedem Augenblick ein Blatt vom Baum, es welkt eine Schuppe von mir ab. Dies geschieht in jeder Stunde unseres Lebens, es ist des Werdens und Welkens kein Ende. Nur selten sind wir wach und achten darauf, was in uns vorgeht. Aber muß das so sein? Warum eigentlich scheint es uns selbstverständlich, daß das Leben eine böse Macht ist, die aus dem Kinderland hinein in Schuld, Enttäuschung und ungeliebte Arbeit führt? Warum soll Freude und Unschuld diesem Leben notwendig zum Opfer fallen?«
Ich weiss es nicht, doch seit ich mir diese Frage stelle, sind für mich Weihnachten und auch viele andere Tage des Jahres wieder wertvoller, bedeutender und inhaltsvoller geworden. Nicht Geld, Macht oder Besitztum machen uns reicher, sondern Hingabe, Teilnahme und Liebe. Das ist ein altes Lied, ich weiss, aber Wahrheit veraltet nicht.
WÜSTENWINTER
Schnee! Ich breitete meine Arme aus, als er vom Himmel fiel. Auch heute vermag mich diese Kristallwatte wie in Kindertagen zu faszinieren. Die weisse Pracht beruhigt meine Psyche, dämpft die hässlichen Geräusche und bringt dieses unvergleichliche Licht hervor.
Ich malte mir schon aus, wie ich mit meiner Tochter als Zugabe ins Zermatter Winterparadies fahre. Sie hielt dem jedoch entgegen, dass sie nun wirklich genug gefroren hätte und warf mir diesen abgewandelten Rap-Satz an den Kopf: »Du bist verliebt in der falsches Wetter … wie soll ich das begegnen?« Auf Seniorendeutsch: Bleib geschmeidig, wir gehen besser nach Ägypten in die Wärme. Ich bockte etwas, willigte aber schliesslich ein – unter der Bedingung, meinem langjährigen, geistreichen Life Coach Dr. Ali Mabulu, der den Winter stets in al Qusair verbrachte, einen Überraschungsbesuch abzustatten.
So rief ich Duppi von Duppenstein, den Minister für den Dienst am Service, Abteilung Spass am Leben, an. Wie es denn zurzeit mit etwelchen Terroraktivitäten am roten Meer so aussähe? Er meinte trocken: Der einzige Terror auf eurem Trip findet am Euroflughafen in Basel statt, beim Sicherheitscheck. Und er behielt recht. Übel gelaunte, französisch sprechende Frustianer machten einen auf CIA. Als ich sagte, dass ich mein Kopftuch aus nicht religiösen Gründen trug, durchleuchteten sie mir danach fast noch den Allerwertesten. Langhaarrocker zu schikanieren, gefiel ihnen.
Nach vier Flugstunden landeten wir sanft in Hurghada und unser Driver erwartete uns. Ashraff stand lächelnd neben seinem verbeulten, vom Wüstensand gepeitschten Kia. Er fragte, wohin er uns fahren dürfe. Und so gondelten wir Richtung Süden. Es fühlte sich an wie auf der Ai 1975 – das heisst, alle zwei Minuten ein Auto. Dichtestress? Dieses Wort können sie hier nicht mal buchstabieren. Ich fragte Ashraff, ob das normal sei. Er nickte und meinte: »Wir haben viel Platz und fast keine Frauen am Steuer.« Wir könnten jetzt bis Port Sudan – so ca. 700 km – weiterfahren, er habe genug Wasser und Sprit im Kofferraum. Ich schüttelte den Kopf und antwortete, dass wir nach al Qusair müssten, unsere Frauen übrigens bestens Auto fahren und wir sie vor der Hochzeit sogar anschauen dürfen. Er blinzelte kurz: »Du meinst die Bikinifrauen?« – »Genau die, Ashraff.« Meine Tochter auf dem Rücksitz begann sich zu amüsieren. Das fand sie weitaus spannender, als sich im kalten Schnee die Zehen abzufrieren. Direkt von minus drei auf plus 25 Grad, das brachte Stimmung. Vor uns lag eine unendlich weite Wüste, gespickt mit ein paar lustigen Palmen. Wir schauten mit grossen Augen durch die Fensterscheiben und genossen die Magie dieser frischen Eindrücke.
Es war nachmittags gegen fünf. Unser Fahrer stoppte in einer kleinen Hafenstadt mit dem Namen Safaga. Wir vertraten uns etwas die Beine und betrachteten das muntere Treiben. Doch plötzlich war es aus mit der Ruhe! Haben Sie vor ein paar Wochen die Sirenen-Alarmübungen in der Schweiz mitbekommen? Hier in unmittelbarer Nähe des alten Hafens schmetterten gleich drei Muezzins los, und zwar volles Rohr. Meine Tochter zuckte zusammen und fragte, halb Spass, halb Ernst: »Papa, kommt jetzt der Krieg?« Ich lachte und erklärte, dass dies im Grunde das Gegenteil sei, nämlich ein Aufruf zum Gebet. Sie sah mich ungläubig an. »Was schreien sie denn so laut von den Türmen herunter?« – »Sie rufen immer wieder ›Gott ist gross‹ auf Arabisch und das fünfmal innert 24 Stunden.« – »Auch in der Nacht?« »Nein, aber vor Sonnenaufgang am Morgen.« Mein Tochterkind hob die Augenbrauen und ich schmunzelte. Ja, wie würde ich reagieren, wenn mir in aller Herrgottsfrühe aus einem übersteuerten Megafon die Grösse von Gott eingehämmert würde? Könnte dies mein Herz erwärmen? Vermutlich etwa gleich wenig wie das übertriebene Sturmgeläute der Solothurner Kirchenglocken, die in Gottes Namen alles überdröhnen. Da lobe ich mir den Ruf des Kuckucks oder des Muschelhorns.
Eine Stunde später waren wir in al Qusair. Das Hotel, von einer Schweizerin geführt, präsentierte sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Die Begrüssung war ein Ereignis, Palmen- und Bugaliengärten ein Zauber und das Nachtessen ein Gedicht. Selig sanken wir in unsere Betten und die Wellen des nahen Meeres wogen uns in einen wohlverdienten Schlaf.
Tags darauf machten wir uns auf den Weg zu Ali Mabulu. Wir trafen auf ein lustiges Bogendachhaus im nubischen Stil ausserhalb der Stadt. »Ihr sucht Ali?«, fragte die kleine Haushälterin Mucka. »Der ist nicht hier, er reiste vorgestern zum Skifahren in die Schweiz.« – »Wie bitte …!?« Enttäuschung. Aber nur kurz, denn ich erinnerte mich zum Glück an einen seiner stärksten Sätze. Nein, es war nicht: »Hütet euch vor den Iden des März«, sondern: »Du findest selten, was du suchst, sondern bekommst immer das, was du gerade brauchst.«
Sand! Ich liess ihn durch die Finger rieseln, als wir zurückschlenderten und musste zugeben: Der warme Steinpuder fasziniert mich nicht minder als der kalte Puderzucker.
GLEICHMACHERMURKS
Wir fühlten uns dem Himmel nah. Und offensichtlich waren wir auch der Sonne näher gekommen, als wir auf einem Felsblock neben Schneefeldern Siesta hielten. Bereits beim Abstieg erhärtete sich der Verdacht, dass wir unsere Gesichter sogleich als Nachtlichter einsetzen können.
Wenn ich zuweilen die verdichteten Wohngebiete verlasse, sehe ich die verschiedenen Backgrounds der Mitmenschen. Von wegen kleine Schweiz! Wer ein paar Tage in Berghütten verkehrt – wo bisher weder Latte Macchiato noch Cola Zero hinaufgeklettert sind – und anschliessend nach Zürich fährt, muss mit einem Kulturschock rechnen! Ich bezweifle, dass das auch den Bildungspädagogen stets bewusst ist, wenn sie in den Verwaltungsgebäuden und Fachhochschulen zwischen Nespressomaschinen und Klassenzimmer umherschreiten und ihre Lernmethoden postulieren. Ein neues Schuljahr beginnt. Wer sind die Kinder, die da hingehen sollen?
Der Emmentaler Sämi bessert sein Taschengeld auf, indem er im Acker Mausefallen verlocht, der Zoran jagt derweil im betonierten Agglokasten vor einem Bildschirm Soldaten durch einen Rohbau und irgendwo in einer Acht-Zimmer-Terrassenvilla packt Emma unter der Aufsicht ihrer Nanny Tennisschläger und Turnschuhe in eine Sporttasche. Die drei führen ein völlig unterschiedliches Leben – vom Zmorge bis zum Znacht. Und es würde uns nicht wundern, wenn der Sämi einen bäuerlichen Beruf ergreift, Zoran Elektronikverkäufer wird und Emma Jura studiert. Aber wäre es auch andersrum denkbar? Die Bildungsexperten sprechen von Chancengleichheit – ich stelle vor allem einen grossen Eifer im Gleichschalten fest. Bringt’s das überhaupt?
Ich glaube, dass wir die besten Chancen vertun, wenn wir Sämi, Zoran und Emma und ihre Land- und Stadtschullehrer harmonisieren, pasteurisieren, sterilisieren und alle an den gleichen Ort müpfen. Denn diese Kinder und ihre Rudelführer haben völlig unterschiedliches Potenzial und ebensolchen Förderbedarf. Wenn wir sie schon in der Primarschule zu Englisch und Französisch zwingen, statt eine Fremdsprache richtig zu vertiefen, sind die Schwachen überfordert und bremsen die Starken aus. Individuelle Wahlfreiheit wäre angebrachter – neben den Kernfächern könnte sich jeder Schüler auf Gebiete konzentrieren, die ihm liegen. Für Zoran ist es überlebenswichtig, in Deutsch sattelfest zu werden, damit er eine Lehrstelle bekommt und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Fertig. Emma will am liebsten an ihrer Sportlerkarriere schrauben und den Sämi nimmt am meisten wunder, was die Argrarwissenschaft Neues an den Tag bringt. Heute, wo die Menschen zunehmend Mühe haben, Hasen und Chüngel, Zwetschge und Pflaume oder Rasen und Wiese zu unterscheiden, sind wir froh um solche Sämis, die das Wissen über die natürlichen Zusammenhänge quasi mit der Muttermilch aufsaugen.
Früher erlebte ich pädagogischen Wildwuchs. Oft richtete sich der Unterrichtsstoff nach den Steckenpferden der Lehrpersonen. Bei der einen wurden Schlangen