Fräulein Rosa Herz. Eduard von Keyserling
Plätze, mit jungen Kastanien und Linden besetzt. Auf der Westseite ward der Garten von einem Flusse begrenzt, der, in enge, hohe Ufer eingezwängt, hier eine wunderliche Stromschnelle bildete. Auf der Nordseite erhob sich der breite rote Backsteinbau des Gymnasiums mit seinem unbeholfenen achteckigen Turm und seinem geräumigen Hof, auf dem sich die Schüler in freien Augenblicken tummeln durften.
Rosa bog in einen Kiesweg des Stadtgartens ein, spähte von einer Anhöhe in den leeren Schulhof hinab und begab sich dann in eine Fliederlaube, um dort auf der Bank auszuruhen. Den Hut schob sie von der heißen Stirn in den Nacken, streckte die schlanken, siebzehnjährigen Beine gerade von sich und holte aus der Tasche ihres Mantels ein Buch hervor, das einen grauen Einband und auf dem Rücken einen gelben Zettel mit einer Nummer hatte. Zuweilen, wenn sie an einen Absatz gelangte oder die Seite umwandte, erhob sie den Kopf und blickte in den Garten hinaus. Dieser lag friedlich, in Sonnenglanz gebadet, vor ihr. Das Grün des Rasens ward von einem Staubschleier bedeckt, der ihm einen gelblichen Anflug gab. Die Baumgruppen auf den Hügeln malten große dunkelgrüne Flecken auf das satte Himmelsblau. Ein Häuschen mit einer Holzveranda lag am Eingange des Gartens, rote Buchstaben auf einem weißen Schilde verkündeten, daß hier Verkauf von Wein und Bier stattfinde. Ein Kellner lehnte müßig an einer Holzsäule der Veranda, den Rücken der Sonne zugekehrt, die den abgetragenen Frack wie Metall erglänzen ließ.
Auf dem breiten Kiesweg ging eine alte Dame langsam auf und ab, bei jedem Schritte mit dem Kopfe nickend. Zerstreut schaute Rosa über all das hinweg, und wenn sie sich wieder auf ihr Buch niederbeugte, hoben sich ihre Brauen mit leichtem, mißmutigem Zucken. Sie erwartete jemanden, dessen Ausbleiben ihr verächtlich erschien.
Natürlich! War Rosas Platz in der Töchterschule leer, so mußte auch in der Sekunda des Gymnasiums eine Lücke sein. Hatte Rosa es für gut befunden, lieber im Stadtgarten als auf der Schulbank ihre Zeit zu verbringen, so wäre es von Herweg Kollhardt feige und lächerlich gewesen, bei den Büchern zu bleiben. Er ließ sich dieses Vergehen nicht zuschulden kommen; ihm fehlte jedoch bei der Ausführung seiner Flucht jene kühne Ruhe, die man an Rosa bewundern mußte, und so war sein Erscheinen zuweilen verspätet. Aber er kam. Hörte Rosa seinen schweren Tritt, dann vertiefte sie sich noch eifriger in ihren Roman und sah erst auf, wenn er vor ihr stand und seine Entschuldigung vorbrachte.
Baron Kollhardt von Kollerwegen liebte Rosa, und sie ließ es geschehen. Ein Sekundaner ist stets verliebt, und das hübsche Wort »Liebe« wird im vertrauten Sekundanerkreis viel genannt. Aber auch die Schanksche Schule, wie jede Schule, beschäftigte sich viel mit jener schönen Leidenschaft. In der Prima galt es für eine Schande, nicht zu lieben. Eine jede hatte ihre »Liebe« und sprach in ruhigem Geschäftston davon wie von etwas Selbstverständlichem: »Gestern sah ich deine Liebe, er ging bei uns vorüber.« – »So! Wer ist doch deine Liebe? Ah so, ich weiß schon!« Und dann kamen die Geschichten von bedeutungsvollen Blicken, von Lächeln, Bemerkungen. An Gegenliebe zweifelte eine Schanksche Schülerin nie; nur hatte den meisten die Gelegenheit gefehlt, sich ihrer Liebe zu nähern. Marianne Schulz hatte lange nicht gewußt, für wen sie sich entscheiden sollte, bis sie endlich, auf das Drängen ihrer Freundinnen, erklärte, sie liebe den Sekretär Feiergroschen. Sobald nun der Sekretär an der Schule vorüberging, hieß es: »Marianne, Marianne! Deine Liebe geht vorüber!« – dann stellte sich das arme Kind – über und über rot – an das Fenster und riß die runden Augen weit auf, während Herr von Feiergroschen ruhig vorüberging, ohne zu ahnen, daß es eine Marianne Schulz auf der Welt gäbe. Aber immerhin! Marianne war froh, daß sie eine Liebe gefunden hatte. Rosa war zu unmittelbar und zu lebhaft, als daß sie sich mit diesen Liebesgeschichten ins Blaue hinein zufriedengegeben hätte. Der Sekundaner Kollhardt war ihre »Liebe«. Gut! Sie schrieb ihm einen Brief und bestellte ihn in den Stadtgarten. Seitdem wiederholten sich diese Zusammenkünfte; Rosa war von ihren Mitschülerinnen ihrer Kühnheit wegen bewundert und als Autorität in Liebessachen angesehen.
Herweg Kollhardt sah äußerst gutmütig und liebevoll aus, wenn er verlegen vor Rosa stand, den breitkrempigen Hut vom Kopfe nahm und sich die feuchte Stirn trocknete. Er war von behaglicher Fülle, die man bei Jünglingen seines Alters nur selten findet. Überall weiche, runde Linien, Arme und Beine drohten das blaue Sommertuch des Anzuges zu sprengen; der Rücken hatte eine kraftvolle Wölbung, die der ganzen Gestalt etwas männlich Reifes verlieh. Von diesem mächtigen Körper lächelte ein weiß und rotes Gesicht freundlich und kindlich herab, und die kleinen braunen Augen glänzten verschmitzt zwischen den roten Wimpern hervor. Das kurzgeschorene rote Haar war stark mit Öl getränkt und stand aufrecht um die niedrige weiße Stirn.
»Es war heute wirklich schwierig«, meinte Herweg lächelnd. »Ich habe enorm klug sein müssen.« Rosa zog die Augenbrauen in die Höhe und sagte: »Was war schwierig?«
»Was?« wiederholte Herweg und setzte sich langsam auf die Bank. Er stützte die Arme auf die Knie und schwenkte seinen Hut wie einen Pendel zwischen den Beinen hin und her: »Rosa, wie können Sie so fragen? Ich mache mir nichts daraus; aber der Direktor sprach sehr unhöflich über mein häufiges Schwänzen.«
»Glauben Sie, die Schank bemerkt mein Ausbleiben nicht?« fragte Rosa gereizt.
»Wie sollte ich«, erwiderte Herweg, nahm vorsichtig einen von Rosas Zöpfen und betrachtete ihn aufmerksam. Rosa ward ungeduldig: »Was haben Sie nur?« Dann lachte sie: »Wissen Sie, Kollhardt, daß Sie mit jedem Tage dicker werden?«
»Hm, ja!« meinte Kollhardt nachdenklich. »Mißfällt Ihnen das?«
»Mir? Sie wissen ja, daß mich das nichts angeht. Nur für Sie wäre es angenehmer, nicht so dick zu sein.«
»Oh, ich mache mir nichts daraus! Es kommt, denke ich, vom vielen Bier. In letzter Zeit leben wir ein wenig wild.«
»So! ja, das glaube ich, da geht es wohl wüst her.«
»Wie man's nimmt. Vorige Nacht haben wir bis drei Uhr gekneipt.«
»Schämen Sie sich«, mahnte Rosa freundlich. »Wovon sprachen Sie denn bei diesem wilden Gelage?«
»Oh, von mancherlei! Von Ihnen, Rosa, war auch die Rede.«
»Das verbitte ich mir. Mein Name soll bei solchen – unsoliden – Kneipereien nicht genannt werden.«
»Er wird mit großer Bewunderung genannt«, wandte Herweg ein.
»Ich mag es nicht«, eiferte Rosa weiter. »Was haben Sie von mir zu sprechen? Sagen Sie mir das, Kollhardt.«
»Eine ganze Menge!«
»Nun was denn?«
Herweg ward verlegen und drehte zerstreut den blonden Zopf in seiner Hand, Rosa aber entzog ihn ihm, wie man einem Kinde, das seine Lektion hersagen soll, ein Spielzeug aus der Hand nimmt. »Sagen Sie doch«, wiederholte sie.
»Ich trinke auf Ihr Wohl.«
»Was mir das nützen wird! Nun gut! Was weiter?«
»Nun – ich sage, daß Sie hübsch sind, sehr hübsch.«
»Wie altmodisch!«
»Wieso altmodisch?«
»Gleichviel«, drängte Rosa. »Was noch?«
»Ich spreche von meiner Liebe.«
»Davon spricht man nicht bei Kneipereien. Und dann, Ihre Liebe, Kollhardt; das ist ja Unsinn.«
»Durchaus nicht!« rief Herweg hastig. »Ich liebe Sie wirklich! Das wissen Sie ja. Ich würde mich sonst doch nicht all den Unannehmlichkeiten mit dem Direktor aussetzen.«
Rosa zuckte die Achseln, und dennoch leuchtete dieser Beweis ihr ein. Nun schwiegen beide. Herweg schaute seine Geliebte unverwandt an und lächelte behaglich. Zuweilen berührte er behutsam mit einem Finger Rosas Hand oder strich sanft über den grauen Sommermantel. Rosa achtete nicht darauf, sondern zog aufmerksam mit ihrem Absatz eine tiefe Furche in den Sand. Herweg begann wieder zu sprechen, machte die Bemerkung, der Kellner Heinrich stehe dort an der Säule, wie ein Affe, der Prügel bekommen hat; er machte Rosa auf die alte Dame aufmerksam, die, in ihrem Spaziergang innehaltend, mit schriller, klagender Stimme »Max, Max!« rief und mit einem Tuche winkte: »Eine