Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
Wolkengüssen die Sterblichen
aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andren die Wolken verscheuchenden
Winden in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog
mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel,
sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf
der Stirne, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der
Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte
Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die
Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon,
des Zeus Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und
sprach: »Laßt euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!«
Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und
schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin,
bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast
stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im
Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, gestadelose See. Die
Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der
andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über
die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder
arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden
vom Wasser hinweggerafft, und was die Welt verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten
Heidegipfeln.
Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende
Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihm schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den
dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein
Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden
übertroffen hätten. Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Welt von stehenden Sümpfen
überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah,
beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte
die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde und die Erde
dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die
Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit
Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch
wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.
Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei
diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige
Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine
lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der
Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede
Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen
wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt
hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das
verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis
sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag uns an, o Göttin, durch
welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der
versunkenen Welt wieder zum Leben!«
»Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure
gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«
Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das
Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht
gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber
dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem
freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm
und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine;
und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«
Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie.
So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen
befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine
Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche
Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in
Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den
Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste
ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der
Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe
geworfenen weibliche.
Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht
und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.
Io
Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io.
Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna
der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in
Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau,
glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des
höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags