Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
Schock Nüssen auch viele taube sind,
so können wir sogar sieben Schock rechnen, ohne die
Mühewaltung, welche das Füttern, Wassergeben und
Bauerreinigen eines solchen unnützen Fressers verursacht.
– Ja, lieber Bruder, sprach der erste wieder mit
einem Seufzer, wir haben uns da von unsrer Gutherzigkeit
gegen dieses unvernünftige Geschöpf, gegen
unsre Meise, zu einer unverantwortlichen Verschwendung
hinreißen lassen, denn bedenke, wie viele Jahre
wir nun schon das nutzlose Geschöpf füttern! Es ist
ganz unerhört! – Darauf wurden die Brüder alsbald
einig, dem unnützen, kostspieligen Kostgänger den
Bauer zu öffnen und ihn hinfliegen zu lassen, wohin
er wollte. Aber der Schmerz über ihre zu spät von
ihnen erkannte Verschwendung nagte den Brüdern am
Herzen, sie konnten sich jene nicht vergeben, diesen
nicht überwinden, und am folgenden Tage hatte der
Gram über ihre Verschwendung ihnen zu gleicher Zeit
das Herz gebrochen.
56. Thassilo in Lorsch
Es geschah, daß Kaiser Karl der Große zu streiten
kam mit Thassilo, dem mannlichen Bayerherzog, der
sein ganz naher Verwandter war, und da er großes
Unrecht durch Anreizung der Widersacher Karls verübt,
so übte Karl eine erschreckliche Rache und ließ
ihm eine entsetzliche Strafe zuteil werden. Karl ließ
den Agilolfinger Thassilo blenden, welches dadurch
geschah, daß jener gezwungen ward, auf einen seinen
Augen nahegebrachten, im Feuer glühend gemachten
Schild zu sehen, bis ihm das Licht der Augen dunkel
ward und gar verging. Sein langes Haar ward vor dem
Thron ihm abgeschnitten und er zum Mönch geschoren,
dann sollte er nach des Kaisers Gebot eingetan
werden als Mönch in ein Kloster, damit er büße und
bete all sein Leben lang. Darauf nach langen Jahren
begab es sich, daß einstmals Kaiser Karl gen Lauresheim,
das ist Lorsch, das Kloster, kam, und hatte den
Herzog Thassilo längst vergessen, und sich gedrungen
fühlte, zur Nachtzeit im Münster dort zu weilen und
zu beten, da nahm er mit Staunen wahr, wie ein
Mönch durch den Kreuzgang unsichern Trittes wandelte,
welcher blind war, ihm zur Seite aber ein lichtumflossener
Bote Gottes ging, der ihn leitete. Des
Greises Züge kamen dem Kaiser bekannt vor, doch
konnte er sich dessen Namens nicht entsinnen. Und
der Mönch ward von Altar zu Altar geleitet und betete
an jedem und schritt dann mit seinem überirdischen
Führer still zurück. Darauf hat der Kaiser am andern
Morgen den Abt des Klosters Lorsch zu sich entboten
und hat ihn gefragt, welchen Mönch er im Kloster
habe, dem ein Engel diene. Der Abt erstaunte und
wußte nichts zu sagen, folgte aber des Kaiser Gebot,
in nächster Nacht mit ihm des Mönchs wieder zu harren.
Da geschah es ganz so wie in der vorigen Nacht,
daß der blinde Mönch wieder kam und der Engel ihn
geleitete. Und der Kaiser, gefolgt von dem Abt, ging,
als der Mönch gebetet hatte, dem Mönch und dessen
Führer nach, und trafen den Mönch allein in seiner
Zelle. Der Abt kannte den Mönch aber nur unter seinem
Klosternamen und wußte nichts weiter von ihm.
Nun sprach der Abt ihn an, zu sagen, was er vordem
in dem weltlichen Leben gewesen, und nichts zu verhehlen
und zu verschweigen, denn sein Herr und Kaiser
sei es, der vor ihm stehe. Da sank der blinde
Mönch zu des Kaisers Füßen nieder und sprach: O
Herr! Viel habe ich gegen dich gesündigt, und meine
Buße währet für und für. Thassilo war ich vordem geheißen.
– Da hub ihn der Kaiser gnädiglich auf und
sprach: Schwer hast du gebüßt, und härter, als mir
lieb, all deine Schuld sei dir vergeben. Da küßte der
blinde Greis des Kaisers Hand und sank zur Erde und
verschied. Im Kloster Lorsch ruht sein Staub.
57. Der Heerwisch
Die Leute in der Gegend der Bergstraße und insonderheit
um die Orte Lorsch und Hähnlein nannten und
nennen die Irrwische Heerwische und haben einen
Spottreim, daß sie sie anrufen, wenn sie, wie gewöhnlich
nur geschieht, in der Adventszeit sich sehen lassen:
Heerwisch, ho ho!
Brennst wie Haberstroh!
Schlag mich blitzeblo!
Das ist aber schon mehr als einem übel bekommen.
Da war vor länger als dreißig Jahren einmal ein junges
Mädchen, das ging zur Abendzeit an einem
Sumpf bei Hähnlein vorüber, da sah sie einen Irrwisch
hüpfen und rief ihm keck und laut den Spottreim
hinüber. Sogleich kam der Irrwisch über den
Sumpf herübergeflattert, auf das Mädchen zu, dem
ward angst – es eilte, was es eilen konnte, seinem Elternhause
zu, der Heerwisch aber flugs hinterdrein,
und hatte feurige Flügel, und schlug damit wie ein
recht wilder großer Sumpfvogel auf das Mädchen los,
und als sie, zum Tod geängstigt, das Haus erreichte
und hineinschlüpfte, war der Heerwisch auch mit drin,
machte die ganze Hausflur hell, trat ihr in die Stube
nach und schlug mit seiner Flackerlohe alle Leute, die
ihm in den Weg und Wurf kamen, dann fuhr er zum
Schornstein hinauf und aus dem Schlot wie ein Feuerdrache
und walzte über alle Dächer, daß sich männiglich
entsetzte. Am andern Tage waren alle, und das
Mädchen zumeist, »blitzeblo« von des Heerwisches
Schlägen. Die Heer- und Irrwische und Feuermänner
werden für Verstorbene gehalten, welche wegen ihrer
Übeltaten im Leben die ewige Ruhe nicht finden, insonderheit
sind es falsche Feldmesser,
Grenzsteinverrücker und Bauern, die dem Nachbar
die Furchen abpflügen, die