Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
er mit mir, gibt mir Kraft, die Arbeit des Tages zu leisten, dich zu schützen und dir ein gutes Leben zu ermöglichen.‹
Sie richtete ihren Blick nach innen und überlegte, doch dann schüttelte sie ihren kleinen Kopf.
›Ich kann ihn nicht sehen und spüren, deshalb kann ich auch nicht zu ihm beten. Ich werde weiter zu Amenemope beten, dass er uns beschützt und uns eine gute Ernte bringt.‹
Ich hatte kein Recht, ihr meinen Glauben aufzudrängen. Zumal ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich noch einen festen Glauben hatte. Vielleicht war es nur noch eine Angewohnheit, mit Gott zu sprechen, zu viel war geschehen, was sich nicht erklären ließ. Langsam begann ich, vieles, was mir einmal wichtig und richtig erschienen war, infrage zu stellen.
›Tu das, mein Herz, aber mit der Ernte wird in diesem Jahr nicht mehr viel werden, du siehst ja, wie das Feld aussieht.‹
›Ich heiße Tefnut, warum sagst du immer mein Herz oder mein Sonnenschein?!‹, sagte sie mit entrüstetem Blick.
Ich lachte leise auf.
›Weil du ein Sonnenschein bist, mein Sonnenschein, und weil du, wann immer ich dich ansehe oder mit dir spreche, mein Herz berührst.‹
Sie sah auf ihre Hände, die sie, um mich nachzuahmen, im mida-no-jouin Mudra in den Schoss gelegt hatte. Nachdem sie eine Weile über meine Antwort nachgedacht hatte, nickte sie und sagte:
›Das ist schön, und du kannst mich auch weiter so rufen, aber das mit der Ernte stimmt nicht, du kannst ja noch mal sähen.‹
›Dazu brauchen wir Wasser, die Flut ist aber schon lange vorbei. Es sind nur noch Pfützen im Kanal.‹
Sie setzte eine überlegene Miene auf und wies mit ihrer kleinen Hand auf die letzten Felder vor der Wüste.
›Einmal hatten die Felder da hinten nicht genug Wasser abbekommen. Sie sahen ganz traurig aus. Da haben die Männer vom Dorf viele Tage lang, weit weg von hier, Wasser in den Kanal geschöpft und noch einmal gesät.‹
Das Mädchen war genial. An diese Möglichkeit hatte ich bisher nicht gedacht. In der Nähe von Theben hatten die Bauern auf einigen Feldern zwei Ernten eingebracht, indem sie nach der ersten die Felder über Schadufs noch einmal bewässerten. Allein war es bestimmt nicht machbar, aber wenn ich von den neuen Dorfbewohnern genügend Männer überzeugen könnte, wäre es bestimmt möglich. Vorausgesetzt, der Tempel würde uns Saatgut zur Verfügung stellen.
Zärtlich strich ich ihr übers Haar.
›Danke, das ist ein guter Gedanke. Ich werde sehen, ob er sich verwirklichen lässt.‹
Das Lob machte sie stolz. Zufrieden lächelnd schloss sie die Augen und gab vor zu meditieren. Auch ich versuchte wieder zur Ruhe zu kommen, doch es hielt nicht lange an. Ich spürte Tefnuts Unruhe und ihre Blicke, die auf mir ruhten. Da ich aber noch ein wenig Kraft schöpfen wollte, legte ich, ohne die Augen zu öffnen, meine Hand auf ihre und sagte leise:
›Noch ein bisschen, und dann zeige ich dir ein Geheimnis.‹
Die Aufregung, die sie sogleich befiel, war fast schlimmer als die vorherige Unruhe. Ich versuchte, wie es einst mein Shaolin-Lehrmeister getan hatte, sie mit der Kraft meines Chi zu beruhigen. Tatsächlich gelang es mir, Tefnut in einen Zustand inneren Gleichgewichts zu versetzen, und ich verspürte erstaunlicherweise fast die gleiche Wirkung.
Entspannt wie schon lange nicht mehr öffnete ich nach einiger Zeit die Augen. Ein Blick in Tefnuts Gesicht zeigte mir, dass es auch ihr sehr gut getan hatte. Tief luftholend, sagte sie:
›Das war schön. Eine Zeit lang konnte ich schweben, und ich hörte die Luft flüstern. Und dann, dann hat eine Frau ein wunderschönes Lied in einer Sprache gesungen, die ich nicht verstand. Wie hast du das gemacht, Vater?‹
Für einen Moment war ich sprachlos. Was hatte das Kind da erlebt? Ich hatte keine Ahnung, was ich ausgelöst hatte und wie ich es ihr erklären sollte.
›Kannst du es noch mal machen? Bitte‹, setzte sie flehend hinzu.
›Ich weiß gar nicht, was geschehen ist, Tefnut. Du solltest nur zur Ruhe kommen, als ich dich berührte. In dem fernen Land, in dem ich eine Zeit lang lebte, ging ich bei einem alten Meister in die Lehre. Er hat mir gezeigt, wie ich Kraft aus mir selber und aus allem um mich herum schöpfen kann. Nichts weiter wollte ich jetzt machen und dir ein bisschen davon abgeben. Ich habe das sehr lange vernachlässigt und möchte es jetzt, sooft ich die Zeit dazu finde, wieder ausüben. Es hat mich damals, nach einem Verlust, wie du ihn erlitten hast, wieder ins Leben zurückgeholt. Ob das noch einmal so geschieht wie eben, kann ich nicht sagen, aber ich werde es gerne wieder mit dir versuchen.‹
Bei meinen ersten Worten war ihre Miene immer trauriger geworden, doch nach dem letzten Satz strahlte sie mich an.
›Ja, bitte.‹
Sie nahm meine Hand, die ich in den Schoss gelegt hatte, und schob ihre darunter.
›Nicht jetzt, mein Sonnenschein, morgen wieder. Jetzt wollte ich dir noch etwas anderes zeigen, was du aber keine verraten darfst. Es ist auch ein Geheimnis von dem alten Meister und ich möchte es von jetzt ab, sooft es geht, mit dir üben.‹
Obwohl sie ein klein wenig enttäuscht war, besänftigte sie die Aussicht auf das Geheimnis.
Ich stand auf und überzeugte mich, dass wir von niemand beobachtet wurden, und ging mit ihr auf die andere Seite des Kanals. Dort gab es eine kleine, mit Schilf bewachsene sumpfige Stelle. Dahinter, vor den Blicken aus dem Dorf geschützt, begann ich mit einer Tai-Chi-Vorführung, an der ich Tefnut schließlich teilnehmen ließ.
Bedingt durch ihr Alter, fielen die Bewegungen ein bisschen tapsig aus, doch es gefiel ihr sehr. Es war der Beginn meiner Rückerinnerung erlernter Werte und half dem Kind, sich selbst zu finden. Die Frage, ob es richtig war, jemand zu dieser Zeit mit derartigem Können in Berührung zu bringen, verdrängte ich bewusst.«
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