WILLST DU LEBEN ... DANN SPRINGE. Martin Wischmann
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MARTIN WISCHMANN
W I L L S T D U L E B E N . . . D A N N S P R I N G E
( MEINE TABU-THEMA GESCHICHTE )
Für Maria, Jasmin, Marvin und Kevin,-die wichtigsten Personen meines Lebens.
Für meine Eltern, die mir das Leben schenkten.
Für Suizidopfer, Angehörige und Freitod-Sehnsüchtige und Getriebene.
Ihnen allen möge mein Buch Balsam, Spiegel, Trost und Hoffnung sein.
Bild 1: Martin Wischmann während seines Solo Laufes: EINTAUSEND KILOMETER DURCH A
1. Prolog
Ich bin Martin, beim Schreiben dieser Zeilen 49 Jahre alt und gewillt und getrieben euch eine wahre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, welche sich so oder ähnlich tagtäglich viele Male in Deutschland oder Anderswo abspielt, meist mit mehr oder weniger tragischem Ende. Es soll eine Geschichte erzählt werden, von einem der jahrzehntelang litt,-in einer Welt lebte, die nicht die Seinige war, von einem Menschen der sich einen Panzer aus Kraft, Zurückhaltung und Ausdauer antrainierte, welcher ihn aber mit der Zeit mehr und mehr erdrückte,-ja zerquetschte, als das zu bewirken, was er eigentlich sollte,-Schutz bieten und eine Versteckmöglichkeit vor der Außenwelt, die sein Leiden nicht erkannte. Ich will eine Geschichte erzählen von Einem der an der Schwelle des Todes stand, an der Schwelle des selbstgewählten Todes,-dem Suizid. Doch was heißt selbstgewählt? Ist es selbstgewählt und selbstbestimmt, wenn sich bösartige Endzeitgedanken im Körper Raum schaffen und wie willensstarke Manager des Bösen Besitz über ihren Wirt erlangen? Ich will eine Geschichte über ein Thema erzählen, das Tag für Tag unendlich viel Leid über Familien und Freunde bringt und sie in tiefe Trauer und Verzweiflung stürzt, nicht nur weil es auch heute noch ein Tabuthema für viele ist und sich nicht wenige aus Unwissenheit und Scham von "Suizidangehörigen" abwenden und ihnen aus dem Wege gehen. Es soll erzählt werden im Namen derer, die vielleicht gerne erzählt hätten, es aber nicht mehr können, weil sie die Schwelle zum Tode überschritten haben und durch ihr Tun viele Fragen aufwerfen, welche die meisten Hinterbliebenen nie beantwortet bekommen. Die folgende Begebenheit handelt von einem verzweifelten, ausweglosen, selbst ausgegrenzten Menschen, der die schnelle, hektisch getriebene, täglich gebetsmühlenartig gleiche Lebensweise, der nach immer mehr strebenden Allgemeinheit nicht mehr erträgt und doch in allerletzter Sekunde die Stufe ins Jenseits nicht überschreitet, obwohl er sich stundenlang in der Schwebe zwischen Leben und Tod befindet. Sie handelt vom Hin- und Hergerissen sein zwischen Leben-wollen und Leben-beenden- wollen, -oder müssen. Darum kann und soll die Geschichte Trost und Verständnis bringen, zum einen für diejenigen die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, zum anderen für jene, die von immer wiederkehrenden Selbsttötungsgedanken heimgesucht und beherrscht werden. Wenn die Erzählung nur einen wertvollen Menschen davon abhält, die Stufe zum vorzeitig herbeigeführten Tode zu überschreiten, dann war sie es wert erzählt zu werden. Darum möchte ich nun von der Geschichte, welche mir so vertraut ist berichten, denn es ist meine selbst durchlebte Geschichte.
2. Gegen mich
Leck mich am Arsch, das Wetter ist gegen mich, -Gott und die Menschheit sind gegen mich! Es mag kurz vor Mitternacht sein, ein eisiger, von strengem Wind gepeitschter Regen sticht mir ins Gesicht, während ich mit langsamen Pedalumdrehungen mein Rennrad durch die feuchtkalte Märznacht lenke. Nasse eisige Hände, ein ebensolches Gesicht und getrieben von einem einzigen Gedanken,-hinauf zum Turm, nichts wie hinauf. Die Strecke, die vor mir liegt ist kaum fünf Kilometer lang, nicht viel für einen Mann der seit der Kindheit auf dem Fahrradsattel sitzt und später als Erwachsener über zehntausend Kilometer pro Jahr in die Pedalen trat und zudem sechstausend Kilometer jährlich mit den Laufschuhen zurücklegte. Und doch sind sie mir verhasst, diese nächtlichen Radtouren, welche mich bei Wind und Wetter, bei hohem Schnee und eisigen Minusgraden, fünf, sechs oder gar sieben Mal pro Woche von meiner Wohnung zum ebenfalls fünf Kilometer, vom früheren Wohnort sogar zehn Kilometer, entfernten Arbeitsplatz,-einer kleinen Bäckerei, führten, oder besser gesagt trieben. Aber die jetzige Fahrt ist anders. Ich bin nicht unterwegs zur Arbeit, schon seit etlichen Wochen bin ich arbeitsunfähig krankgeschrieben, habe die letzten vier Wochen stationär in der Psychiatrie verbracht und bin erst seit wenigen Tagen in tagesklinischer Behandlung, das heißt bei Nacht bin ich Zuhause. Und genau dort kam der erneute Schub, der mich, obwohl ich ein gewisses Maß an Medikamenten einnehme, von einer zur anderen Sekunde zwang, bei Nacht und Dunkelheit, Hals über Kopf das Fahrrad zu nehmen und zielgenau Richtung Aussichtsturm in die, nur von dem schwachen Fahrradscheinwerfer bescheiden ausgeleuchtete eisige Nacht zu fahren. Meine Familie hatte keinen Verdacht geschöpft, denn im Treppenhaus der baufälligen Schrottimmobilie, die uns eine gerissene Maklerin angedreht hatte, sagte ich, dass mein Ziel die psychiatrische Notaufnahme der mir bekannten Klinik sei. Obwohl die Strecke dorthin ungefähr zwanzig Kilometer lang war, hätte niemand einen Einspruch dagegen eingelegt, denn jeder kannte meine Einstellung, wusste dass ich keine Einwände duldete. Wenn ich etwas tun wollte, dann tat ich es, ob es ein Eintausend Kilometer langer Rucksackmarsch alleine durch Arizonas Wüsten oder der Langstreckenmarsch der Alpenüberquerung war, egal Nie hätte ich zugelassen, das mein besorgtes Umfeld meine stets alleine durchgeführten Extremtouren kritisieren würde. Also fuhr ich, während meine Lieben dachten, das die helfende Klinik mein Ziel sei, hinauf Richtung dunklem Aussichtsturm. Mein gesamtes Leben verbrachte ich im deutschen Bundesland Hessen und genau dort steht seit den achtziger Jahren der 34 Meter hohe, hölzerne Turm, der rund um die Uhr zugänglich ist und bei Wanderern und Lebensmüden gleichermaßen Interesse weckt. Seit seiner Erbauung sprangen unzählige von seiner Brüstung in die Tiefe, die Anwohner in der Umgebung hörten davon über Mundpropaganda oder über den Funk der freiwilligen Feuerwehr. Die Medien vermieden es stets über einzelne Vorfälle zu berichten, selbst wenn der Turm monatliche Opfer zu beklagen hatte. Wohl sollte er nichts von seiner Unschuld verlieren. Darum möchte auch ich auf konkrete Lagedaten verzichten. Nach gut zwei Kilometer biege ich in der stockfinsteren Nacht von der Hauptstraße ab, schlage die serpentinenartig nach oben führender Seitenstraße ein und fahre wie ferngelenkt die Steigung empor. Warum bin ich hier? -, frage ich mich unbewusst und erhalte als Antwort das real wirkende Turm Bild vor Augen. Was geht hier ab? Mein Blick aus,-wegen des peitschenden Regens, halb zugekniffenen Augen, haftet im Dunkel der Nacht an dem weißen Seitenstreifen, welcher die schmale Straße rechts begrenzt. Bloß nicht im Regennebeldunkel von der Straße abkommen und verunglücken. Warum eigentlich nicht? Der Anstieg vor mir scheint endlos. Wie lange bin ich schon unterwegs? Wo bleibt die Beleuchtung des nächsten Dorfes, das unmittelbar unter dem Aussichtsturm liegt? Ich erkenne wie das Schwarz der schmalen Straße allmählich grau und alsbald sogar weiß wird. Schnee, der Regen geht in Schnee über, Scheiße. Erstmals dreht das Hinterrad des Rennrades leicht durch. Die nächste Haarnadelkurve und ein weiteres Durchdrehen folgen. Ich steige ab, berühre mit meinen Schuhen glättetestend den matschig feucht schneeigen Untergrund und schiebe das Rad weiter bergan. Mein Kopf scheint hohl und leer zu sein, nur von einem dumpfen, kaum spürbaren Dröhnen erfüllt, während vom Körper eine kaum ertragbare innere Unruhe ausgeht, welche mit Worten kaum zu beschreiben ist. Was tue ich gerade, ich der nichts wert ist, wo will ich hin? Wo liegt der Sinn meines Tun, habe ich jemals etwas Sinnvolles getan? Und immer wieder der Turm als Spiegel der Fragen als Antwort im Geiste. Nebel, dichter werdender Nebel füllt den Scheinwerferstrahl mehr und mehr aus. Der Nebel scheint auch von meinem Schädelinneren Besitz ergriffen zu haben, Nebel überall. Da erkenne ich schräg oberhalb vor mir eine milchige, weißgelbe, schemenhafte Wolke in der Nebelsuppe. Sie ist sichtbar durch die erste Straßenlaterne des Dorfes, welches auch durch den Turm weithin bekannt ist. Das vielleicht kaum zweihundert Seelen zählende Dorf, für hessische Verhältnisse ein Bergdorf, schläft. Kein Geräusch geht von ihm aus. Wäre Sommer hätten die Schlafenden die Fenster offen und man würde Schnarch - und Furzgeräusche hören. Sicher auch die schamlosen Stöhn Laute der Fickenden und Bumsenden. Aber es ist Winter, kalter stiller Winter. Von einer Gefühlsvielfalt, von oben nach unten, von links nach rechts, von vorne nach hinten gezerrt, schiebe ich mein Rad über die mittlerweile geschlossene Schneedecke durch das kleine Dorf. Wenige Minuten später liegt der Ort, den ich über eine noch steile ansteigende schmale Straße, im Grunde nur noch ein asphaltierter Weg,