Aufstand in Berlin. Heinz-Joachim Simon
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Heinz-Joachim Simon
Aufstand in Berlin
Roman
Simon, Heinz-Joachim : Aufstand in Berlin. Roman. Hamburg, acabus Verlag 2018
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-667-4
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-666-7
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: pixabay.com
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Eine Legende –
gewidmet denen, die die Träume der Jugend träumen.
Schon die Bezeichnung Legende im Untertitel weist aus, dass in diesem Buch keine realen Personen beschrieben werden, sondern sie allesamt meiner Phantasie entsprungen sind. Dies gilt insbesondere für die fiktive Persönlichkeit des Regierenden Bürgermeisters. Da ich das Berliner Lokalkolorit, so hoffe ich, sehr genau beschrieben habe, lege ich Wert auf die Feststellung, dass sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig wären.
„Dann gingen wir weg
und hinterließen ein liebliches weißes Feld voll
blütengleicher Gebilde auf
Fußstapfenstengeln.
Leonard Cohen
1
Der Vogel kreiste über dem Tal. Es war ein großer schwarzer Vogel. Ruhig, beinahe ohne Flügelschlag zog er seine Kreise. Den Menschen unten war er vertraut; sie hatten ihn in ihr Herz geschlossen und oft sprachen sie voller Bewunderung von seiner Kraft und seiner Größe. Er war der letzte Milan in dieser Gegend. Er war schon alt und um seine Kraft war es längst nicht mehr so gut bestellt, wie die Leute glaubten. Doch was ihm durch das Alter an Kraft und Geschicklichkeit abging, machte seine Erfahrung mehr als wett. Eines Tages kamen sie mit Planierraupen, Baggern und Lastwagen in sein Tal. Immer öfter wurde der Vogel gestört und immer höher musste er fliegen, um dem Gestank und dem Lärm zu entfliehen.
Monate später erkletterten Kinder einen großen Baum am Rande der Straße. Dort, in einer Astgabel, fanden sie einen großen verwesten Vogel. Nur das prächtige Federkleid erinnerte an den Milan, der einst über dem Tal gekreist war. Die Kinder warfen den toten Vogel in hohem Bogen vom Baum herunter und noch einmal breiteten sich die Schwingen des Vogels aus, ehe sie das herbstliche Gras berührten. Noch immer konnte er fliegen.
Damals wohnte er noch in einem Haus, das auf einem Hügel allein am Rande des Grunewalds stand. Das große weiße Haus mit dem gepflegten Rasen kannte jeder in der Gegend und sonntags blieben die Spaziergänger vor der Villa stehen und sahen bewundernd auf die schier endlose Grünfläche und die Terrasse mit dem Swimmingpool und die Säulen der Veranda. Mit Hochachtung und mit ein wenig Neid sahen die Menschen auf das Haus des Eugen Singer.
Er hatte es geerbt. Dies und anderes, was ihn als reichen Mann auswies und doch nur ein Bruchteil dessen war, was die Singers einst besessen hatten. Es war das Erbe seiner Mutter, die in einer Anstalt dahin dämmerte, bis sie starb. Er hatte sie nie kennen gelernt. Er wusste nur, dass sie ihren Bruder umgebracht hatte und die Geschichte ein dunkles Geheimnis der Singers war. Aber von seiner Mutter hatte er nichts dazu erfahren. Selbst von seinem Onkel nicht, dem alten Michael Singer, der ihm die Eltern ersetzt hatte. Alle wähnten Eugen Singer glücklich und reich und mächtig. Und als Vorstand der Singerwerke mit den Stahlwerken, Gruben, Kaufhäusern, Gütern und anderen Unternehmungen, war diese Annahme mehr als verständlich. Doch er besaß nur ein kleines Aktienpaket. Der Name war es, der ihm den Vorstandsposten eingebracht hatte und – trotz der fast sprichwörtlichen Zurückhaltung – der Einfluss des alten Michael Singer, der auf seinem Gut Ritschen bei Neuruppin auf den Tod wartete.
In letzter Zeit liefen die Geschäfte nicht ganz so gut und der Aufsichtsrat war mit ihm unzufrieden und die Aktionäre verlangten nach einer aggressiveren Geschäftspolitik. Die alten Werte des Michael Singer galten nicht mehr und er war nun zu alt, um Eugen zu unterstützen und wohl auch zu gleichgültig, sich jetzt noch um das Erbe der Singers zu kümmern.
Seit einiger Zeit hatte sich bei Eugen Singer der Eindruck verstärkt, dass sich gegen ihn etwas zusammenbraute. Über sich selbst erstaunt, stellte er fest, dass es ihm gleichgültig war. Er war nun in den Fünfzigern, was man ihm nicht ansah, da er sich eine leutselige Art bewahrt hatte, und die Frauen nannten ihn charmant, was mit seiner Eloquenz, seinem
Optimismus, der distinguierten Erscheinung und dem leichten Grau seiner Schläfen zu tun hatte. Singer war, obwohl er sich dessen nicht bewusst war, ein Frauentyp, jedenfalls für die Frauen, die einen Mann nicht nach einem Waschbrettbauch und den Erwähnungen in den einschlägigen Glamourmagazinen beurteilen.
Es geschah in jenem Jahr, als ein durchaus fähiger und tatkräftiger Regierungschef von der Presse aus dem Amt geschrieben wurde und nun eine Frau die Regierung übernahm. Diese machte ihr Geschäft nicht so schlecht, wie alle erwartet hatten. Die Presse lobte sie anfangs sehr. Was bei dem alten Regierungschef Proteste ausgelöst hätte, wurde nun als sachlicher Regierungsstil gepriesen und man war mit der Kritik sehr zurückhaltend. Die Fußballweltmeisterschaft fand in dem Land statt und die Bürger feierten sich selbst und die paar verunglückten Reformen fanden wenig Beachtung. Noch immer gab es über vier Millionen Arbeitslose. Die Presseverlautbarungen der Konzerne verkündeten in wohlbegründeten Worten, dass Entlassungen unumgänglich wären, damit Deutschland weiter wettbewerbsfähig blieb. Die Aktienkurse stiegen daraufhin kräftig und niemand schien etwas dabei zu finden, dass die Wertsteigerungen mit Leid, Angst und Verzweiflung in Verbindung standen.
An einem sonnigen Herbsttag wurde Eugen Singer bewusst, dass hinter seiner Gleichgültigkeit mehr steckte: eine tiefgehende Unzufriedenheit über das, was er geworden war und was von ihm verlangt wurde. Am Anfang war es nur eine Ahnung, dass dies mit dem zu tun haben könnte, was ihm in seiner Jugend einmal als wichtig erschienen war. In seinen jungen Jahren war alles einfach gewesen und er hatte gewusst, worum es wirklich ging und was getan werden musste und dass man zwar Angst haben durfte, aber diese zu überwinden dazu gehörte. Damals war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass sich das Dasein damit erklärte, zu Träumen unterwegs zu sein. Er war ein Achtundsechziger. Vor dem Schöneberger Rathaus hatte er einen Wasserstrahl auf das Ohr bekommen, was ihn auf der linken Seite das Gehör gekostet hatte, so dass er sich noch jetzt bei Konferenzen so setzen musste, dass er alle Teilnehmer zur Rechten hatte. Damals, als die Rolling Stones „Street Fighting Man“ sangen, war der Verlust des Trommelfells eine Auszeichnung gewesen, der Tribut dafür, dass man für das eintrat, was man für richtig hielt. Es war eine Menge Schwärmerei und Unsinn dabei gewesen und manche Torheit – aber einige Träume hatten sich verwirklichen lassen. Wenigstens den Mief aus der Nazizeit hatten sie vertreiben können. Wie der ehemalige Außenminister des alten Regierungschefs konnte er von sich sagen, dass er ein „Rock’n Roller“ war. Doch dies bedeutete nichts mehr, war nur von Erinnerungen begleitet an das „Big Apple“ in der Spichernstraße, an die „Badewanne“ und das gute alte „Riverboat“ am Fehrbelliner Platz, die damals die Tempel einer neuen Zeit waren. Heute war das nur noch Nostalgie. Die Presse, nun von jüngeren Redakteuren besetzt, nannte die Achtundsechziger Schwärmer und sie gab ihnen die Schuld am Zustand der Republik, woran manches stimmte, aber die positiven Auswirkungen außer Acht ließ.
Gefühle der Unzufriedenheit