Amaterasu. HeikeHanna Gathmann
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HeikeHanna Gathmann
Amaterasu
Eine Erzählung mit Illustrationen
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Gibt es heute noch Märchen, welche tatsächlich geschehen? Sabrina, eine Therapeutin, findet auf einem verwilderten Grundstück einen erblindeten Spiegel, der eine Geschichte zu erzählen beginnt. Für jeden, der es wagt, hineinzusehen. Die Frau muss feststellen, dass dies kein Zufall ist. Denn das rätselhafte Fundstück besitzt eine Vorgeschichte, welche den Leser mit der japanischen Sonnengöttin Amaterasu bekannt macht. So war und ist auch diese mythische Figur, eine Kami, nur ein Teil der Natur: „Stärke und Schwäche sind keine Gegner. Sie sind Geschwister.“
Sabrinas Erlebnisse sollen einladen, die Gegenwart - mit den eigenen Augen gesehen - zu verstehen und vor allem sich selbst zu trauen …
I.
Sabrina betrachtete die wilden Himbeerstauden. Die roten, reifen Früchte hingen tief herab. Die Blätter der Pflanzen waren durch die zahlreichen, heftigen Stürme der letzten Wochen arg zerzaust. Sie zog eine Frucht vom Stengel. Kostete sie. Trotz der Süsse blieb ein bitterer Geschmack auf ihrem Gaumen zurück. Sollte sie nicht besser gehen und alles hinter sich lassen? Sie trat einen Schritt vorwärts. Das zerbrechende Unterholz knirschte unter ihren Schuhen. Was für eine verlassene Gegend war das nur hier! Trotz des grosszügigen Blickes auf den Fluss, welcher die triste Gegenwart mit Gleichmut ertragen liess. Ja, zweifelsohne bot diese Landschaft noch wilde, natürliche Oasen, um Natura zu tanken. Oder die Hoffnung auf eine schadstoffarme Atemluft. Die Frau sah zu den Wipfeln der Tannen, wo sie für einen winzigen Augenblick den buschigen Schwanz eines Hörnchens erhaschte. In ihrer Kindheit auf dem verwilderten Grundstück angepflanzt waren die Bäume inzwischen fünfzehn Meter in die Höhe geschossen. Als Sechsjährige hatte sie unter den Tannen Verstecke angelegt. Angeschwemmtes Holzgut als ihren ganz persönlichen Schatz gesammelt. Kindliche Abenteuer und Träume von einer unbeschwerten Zukunft. Hinter den Tannen lukte ein bedachtes Stahlgerüst hervor. Just errichtet und geplant als Prüfstelle für Autos. Obgleich mitten in einem Wohngebiet liegend war das Vorhaben von dem zuständigen Bauamt genehmigt worden. Ein Unding sei dies, dachte Sabrina zornig, wo doch endlich fast jeder die klimatischen Veränderungen zu spüren beginne. Wenn auch noch nicht am eigenen Leib. Nur ein Blinder könne die unnatürlichen massiven Regenfälle, die starken Winde im Frühjahr und Herbst leugnen. Beinahe stolperte sie über den Eingang zu einem Kaninchenbau, tief im Unterholz verborgen. Aufgeregte, warnende Vogelstimmen liessen den Eindringling auf der Stelle verharren. Mit welchem Recht stolpere sie in einem fremden Revier herum?, fragte sie sich. Die Frau atmete den intensiven Duft der vielen Wildblüten ein, welche um sie herum prachtvoll gediehen. Ein sich warm und wonnig anfühlendes Wohlgefühl, doch angekommen zu sein, durchflutete ihren Körper, ihre Sinne, als im goldgelben Licht der Abendsonne am Waldboden ein rätselhafter Gegenstand aufblitzte. Die heissen Strahlen des fernen Energiespenders spiegelte. Was war das nur? Sabrina vermutete eine achtlos weggeworfene, plasterne Einkaufstüte oder eine vergammelte Taschenlampe. Vorsichtig schob sie mit den Händen das üppig wuchernde, sommerliche Wiesengrün beiseite, um das Geheimnis zu lüften. Vor ihr lag im Moos ein unscheinbarer, erblindeter Spiegel. Im Quadrat etwa dreissig Zentimeter gross. Was für ein gammeliges Ding, dachte sie enttäuscht, aber sein kunstvoll verzierter Rahmen zog sie in seinen Bann. Es handelte sich um mysteriöse rote, blaue oder grüne Linien, welche auf dem korngelben Hintergrund ein undurchsichtiges, beschwingtes Muster wiedergaben. Die Linien ähnelten asiatischen Schriftzeichen, und ihr war, als ob sie tanzten. Neugierig hob sie das seltsame Fundstück an. Es wog nicht viel. Möglicherweise ein halbes Kilo oder weniger. Sie drehte es auf seine Rückseite. Nein, es war nichts Aussergewöhnliches an dem Ding zu entdecken! Es schien nur ein gewöhnliches Glas zu sein. Feines, jedoch in die Jahre gekommenes Aluminium als reflektierender Hintergrund. Warum nur konnte sie den Blick nicht abwenden, den Spiegel einfach in seinem waldigen Grab liegenlassen? Sie verstand den Grund nicht. Der hölzerne Rahmen schien ihr eine besondere Geschichte erzählen zu wollen. Es kam ihr nun vor wie ein verzweifelter Hilfeschrei. Obwohl Sabrina in dem verschmutzten Glas noch nicht einmal ihr eigenes Antlitz erkennen konnte, beschloss die Frau, das Ding mitzunehmen.
Der dichte Feierabendverkehr schoss ihr auf dem Radweg entgegen. Jeder war in seiner privaten Blechbüchse eilig auf dem Weg heimwärts. Die grellen Scheinwerfer blendeten die Radlerin. Die Ursache für die Raserei - so der Wunsch, auf die schnellste Weise nach Hause zu gelangen, waren verständlich, zugleich egoistisch. Gleichgültig und teilnahmslos schob jedes Auto seinen Vordermann voran. Notfalls hupend. In die Pedalen tretend musste sie sich höllisch vor den an ihr vorbeirasenden PKWs vorsehen, weil die aufgescheuchten Regenpfützen an ihrer Kleidung klebten wie unnötige, wütend gewordene Matschpfropfen. „Ignorantes Pack!“, schimpfte sie, fluchend auf den Spiegel schauend, welcher in ihrem Fahrradkorb am Lenker erzitterte, „die gequälte Natur könnte es euch irgendwann heimzahlen.“ In ihrem Haus, am Fluss gelegen, angekommen, stellte sie das Fundstück sofort auf ihre Kommode im Flur. Dort war es sicher, nicht durch eine Unachtsamkeit zerstörbar. Nachdenklich betrachtete sie erneut die hübschen Zeichen auf dem Holzrahmen. Die eindringlichen Farben entsprachen genau den Farben der bunten, kleinen Edelsteine des Silberringes, den die Frau am rechten Ringfinger trug. Wieder kam es ihr vor, dass es kein Zufall gewesen sei, dass ausgerechnet sie diesen Gegenstand gefunden hatte. Als habe er sie als zukünftige Besitzerin bestimmt. Sie empfand plötzlich ein ihr nicht erklärbare Vertrautheit. Und traf es nicht zu, dass sich die hässlichen, schwarzen Flecken auf dem blinden Glas unmerklich aufzulösen begannen. Im Nichts verschwanden? Verwundert beobachtete Sabrina das Schauspiel, welches sich gerade vor ihren Augen auftat. Aus ihrer Arbeit als Therapeutin kannte sie Wahrnehmungsstörungen, die sich etwa bei drogenabhängigen oder wahnerkrankten Patienten zeigten. Nein,