Appeasement und Überwachung. Shimona Löwenstein
weiterer Eingriffe ins Leben der Menschen. Nach der Antiraucherkampagne wird der Alkoholkonsum als nächstes Objekt einer allgemeinen Reglementierung angepeilt: Alkohol gehöre zu unserer Alltagskultur; die Kinder wollen daher ebenfalls davon probieren, kennen aber ihre Grenzen nicht, lautet zum Beispiel ein politisch korrektes Zeitungskommentar. Das Innehalten der gesamten Gesellschaft sei gefragt. [29] Mit weltfremden Bildern und Aufforderungen auf Straßenplakaten nach dem Schema einer Imagekampagne predigt man dann den jungen Menschen „Kenne deine Grenzen!“, als könnte jemals so etwas irgend jemanden ansprechen. Es gibt aber keine Hinweise dafür, daß sich Jugendliche deshalb betrinken, weil zu Hause Alkohol getrunken wird; ein Vergleich mit dem Drogenkonsum, der nicht zu unserer traditionellen Alltagskultur gehört und dennoch bzw. eher gerade deshalb ein weit größeres Problem darstellt, würde den behaupteten Zusammenhang als unbegründet erkennen lassen. Die ganze Argumentation ist schief und irreführend: Die Gleichsetzung von Komatrinken mit normalem Alkoholgenuß und die Schuldzuweisung der Alltagskultur bzw. den Eltern stellt an sich ein problematisches und den Eltern gegenüber ungerechtes Urteil dar.
Es ist schwierig, Kinder zu erziehen, wenn die Erziehung ständig durch äußere Einflüsse beeinträchtigt wird: Die Kinder stellen überzogene Ansprüche auf Konsum und Vergnügen, die ihnen durch Werbung und Gruppenzwang in ihrer Umgebung aufgedrängt werden, und erwarten von den Eltern, diese ganz selbstverständlich zu erfüllen. Diesem gesellschaftlichen Druck wagen sich nur die wenigsten entgegenzustellen, um nicht als „Rabeneltern“ angesehen zu werden. Umgekehrt sagt den Kindern niemand, sie sollten etwa ihre Eltern achten, ihnen gehorchen oder gar dankbar sein. Im Gegenteil: Es wird ihnen erzählt, daß sie „Kinderrechte“ hätten, die sie sodann als Recht auf Taschengeld, Unterhaltung, Arbeitsverweigerung, auf Widerspruch, Frechheit und Straffreiheit mißverstehen. Den Eltern allein werden in steigendem Maße Pflichten auferlegt, die weit über bloße Fürsorge hinausgehen, während zugleich ihre Autorität als Erzieher untergraben wird. Wie sollen sie dann angesichts solcher Zumutungen und der allgemeinen gesellschaftlich akzeptierten Gehorsamsverweigerung seitens der Kinder in ihrer „Erziehungskompetenz“ nicht „überfordert“ sein? Sie werden von der Gesellschaft nicht unterstützt, wenn sie versuchen, ihren Kindern Grenzen zu setzten oder sie gar zu Bescheidenheit, Rücksicht und Pflichtbewußtsein zu erziehen, sondern im Gegenteil als Autorität in Frage gestellt. Sie werden dazu angeleitet, mit welchen Mitteln sie ihre Kinder zu erziehen haben, sobald aber diese Mittel versagen, wird ihnen die gesamte Verantwortung angelastet. Sollten sie dagegen zu anderen Maßnahmen greifen, wie etwa autoritären Anweisungen und Strafen, bis zu traditionellen Körperstrafen, dann gilt es in den Augen der antiautoritären Erzieher als Fehlhandlung, die als Ursache für spätere Gewalttätigkeit der Jugendlichen, ja als Mißhandlung angesehen wird.
In der Tat gibt es Fälle grausamer Mißhandlung von Kindern, ja der Tötung durch Vernachlässigung oder Sadismus, die lange unentdeckt bleiben. [30] Mit der Gewalttätigkeit von Jugendlichen haben diese Fälle überhaupt nichts zu tun, mit Körperstrafen nur selten. Nur hat man unter dem Vorwand solcher Grausamkeiten alle Körperstrafen gesetzlich verboten, und damit selbst einen Klaps auf den Hintern eines hysterischen oder aggressiven Kindes zur kriminellen Handlung erklärt. Ein feines Unterscheidungsvermögen zwischen Strafen als Erziehungsmaßnahmen und tatsächlichen Mißhandlungen, die meist im Verborgenen geschehen und bei denen die Täter oft ungeschoren davonkommen, scheinen die Reformpädagogen und ihre politischen Förderer nicht zu besitzen. Als der Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge auf einer Podiumsveranstaltung der CDU über das Thema „Jugendkriminalität“ äußerte, er lasse sich bei der Kindererziehung „einen Klaps“ nicht verbieten, wurde er vom Fraktionschef der Grünen Volker Ratzmann wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ angezeigt. Die danach zur Schau getragene öffentliche Empörung nicht etwa über die Anzeige, sondern über die Äußerung des Staatsanwalts zur Unsinnigkeit des „Klapsverbots“, erinnert in ihrem hysterischen Ton, ihrer Unverhältnismäßigkeit und Ausdrucksweise wieder an fanatische Anhängerschaft vergangener Regime: Man warf ihm vor, er wolle sich „über den erklärten Willen des Gesetzgebers hinwegsetzten“, daß es eine „gewaltfreie Erziehung“ stattzugeben habe; dies sei ein „Unding“ und „nicht tolerabel“. Abgesehen davon, daß das Verbot kontraproduktiv ist, in manchen Fällen etwa zu anderen raffinierten Strafen und dem Trend nach eher zur steigender Gewalttätigkeit von Jugendlichen führt, die keine spürbaren Gegenmaßnahmen mehr zu befürchten haben, bedeutet es schon an sich eine Einschränkung des Erziehungsrechts der Eltern.
Die subtile Ideologie einer straffreien „alternativen“ Erziehungsform, die im Grunde genommen Nichterziehen bedeutet, steht immer im Hintergrund dieser Umerziehungsversuche entmündigter Eltern. Eine ähnliche Fehldeutung des Sachverhalts zeigt auch die Diskussion über Gewalt an den Schulen allgemein, die den gängigen Übergriffen nichts entgegenzusetzen wagt, als freundschaftliche Gespräche mit den Tätern, etwa in der Art: „Ich finde es gut, daß du mir erzählst, wie du deinen Mitschüler angespuckt hast, aber ich finde es trotzdem nicht gut, daß du es gemacht hat.“ Man solle den Gewalttäter nicht rügen, weil man damit sein Vertrauen verlieren könnte; auf keinem Fall dürfe man seine „Würde“ verletzen. Die richtige Lösung sei ein „gemeinschaftliches Miteinander“. [31] Ganz ernsthaft wird behauptet, daß man, wenn die bisherigen Strafen nicht greifen, auf Strafen an sich verzichten solle. Wo der gesunde Menschenverstand eine andere, in der Regel härtere Strafe als Maßnahme vorschlägt, läuft hier die pädagogische (wie auch juristische) Diskussion eher in Richtung Verzicht auf Strafen überhaupt.
All diese möglicherweise gut gemeinten Äußerungen gehen in ihrer Furcht vor Vergeltung und Strafe, die von vornherein als „schwarze Pädagogik“ diffamiert wird, von falschen Voraussetzungen über die Motive der Gewalttäter aus und erreichen schließlich durch ihre Bemühungen, die Täter als akzeptierte, wenn auch fehlgeleitete Partner „auf gleicher Augenhöhe“ zu behandeln, eher das Gegenteil ihres vorgestellten Ziels. Sie fördern die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen, indem sie deren Ansicht bestätigen, daß sich Gewalt lohnt, da man dadurch Aufmerksamkeit, ja Zuwendung gewinnt, die man durch unauffälliges Verhalten nicht erhält. Dadurch hat das pädagogische Mißverständnis durch eigene Tabus auch die Schule außerstande gesetzt, wirkungsvoll gegen Gewalt vorzugehen. Deswegen werden unerwünschte Verhaltensweisen, wie Gewalttätigkeit gegen Mitschüler, lange geduldet, die Lehrer greifen nur selten ein, schauen lieber weg oder verschieben die Verantwortung in die Zuständigkeit von Beratern, Psychologen, Sozialarbeitern und anderen in der blühenden Hilfeindustrie Tätigen. Nur im Extremfall findet eine Quasibestrafung durch „Klassenkonferenzen“, zeitweiliges Schulverbot, Versetzen in andere Klassen oder an andere Schulen statt. Schließlich werden solche Kinder, die man nie richtig zu bestrafen wagte, als „problematisch“ oder „schwer erziehbar“ eingestuft und ggf. an Sonderschulen abgeschoben. Mit dem Loswerden der „Problemkinder“ glaubt man dann die Probleme gelöst zu haben.
Wie erfolgreich die neue gewaltfreie Pädagogik ist, unterstützt durch die verständnisvolle Behandlung der Täter durch die Justiz, sieht man an der Zunahme von Gewalt hauptsächlich bei Jugendlichen. [32] Insbesondere nach den Vorfällen an der Neuköllner Rütli-Hauptschule, wo Unterricht ohne Polizeiüberwachung unmöglich geworden war, wurde deutlich, wie die moderne Pädagogik angesichts des Desinteresses der Schüler am Unterricht und deren zunehmend aggressiven Verhaltens (besonders arabischstämmiger Jugendlicher) vollständig versagte. [33] Nichtsdestoweniger reagierte die pädagogische Prominenz wieder mit einem Musterprojekt aus der Kategorie friedlicher Gewaltbekämpfung, nämlich mit der Einführung einer Wahlpflicht-AG Boxen. Schließlich versuchte man mit diversen Tanz- und Medienprojekten bis hin zum Tragen einer besonderen „Rütli-Mode“ die Problemschule zu einem Vorzeigeprojekt umzuwandeln. [34] Das scheint ihnen inzwischen auf eine Weise gelungen zu sein: Das ständig erweiterte Großprojekt für 35 Millionen Euro mit Grundschule, Kindergarten und weiteren geplanten Einrichtungen (Elternhaus, sozialpädagogischer Dienst, „Lernwerkstatt“ usw.) heißt jetzt „Campus Rütli“. [35] Warum aber ausgerechnet gewalttätige Jugendliche Boxen lernen sollten, fragte niemand, und ob ihnen der „Break-Dance“ oder was auch immer sie jetzt in der neuen „Gemeinschaftsschule Neukölln“ machen (vom Unterricht wird nichts gesagt), dazu hilft, anständige Menschen zu werden, bleibt zweifelhaft.
Die nie geahndete Gewalt