Sie ist wieder da. Michael Sohmen
Michael Sohmen
SIE IST WIEDER DA
(Sie war dann mal weg)
Roman
E-Book Version 3.1
Erste Veröffentlichung Januar 2017
Eines Morgens in der Zukunft
»Sie ist aufgewacht!«
Es waren die ersten Worte, die ich hörte. Als ich wagte, meine Augen zu öffnen, bereitete mir das Licht intensive Höllenqualen. Sofort schloss ich sie wieder und versuchte, anhand der Stimmen eine Antwort auf die Frage zu finden, die sich mir aufdrängte. Wo bin ich?
Nebulös tauchten erste Erinnerungen auf. Szenen eines Wahlkampfs erschienen vor meinem geistigen Auge. Ich entsann mich, dass dieser der schwierigste war, den ich in meiner Karriere jemals durchstehen musste. Nun jedoch befand ich mich auf einem Krankenbett und war aus einer Bewusstlosigkeit erwacht. Offenbar hatte man mich auf einer meiner Wahlkampfveranstaltungen attackiert. Es war die logische Erklärung. Diese Bundestagswahl hatte sich derart zugespitzt, dass es zuletzt um nichts weniger ging als um unser aller Schicksal, die Erhaltung unseres demokratischen Systems und unserer christlichen Werte. Mein Land war gespalten. Parteien der extremen Rechten und der radikalen Linken waren derart stark geworden, dass ich alles daran setzten musste, unsere Wähler vor einer Riesendummheit zu bewahren. Braun und Tiefrot waren politische Richtungen, von denen man lange gehofft hatte, dass sie in der Versenkung der Geschichte verschwinden würden. Die galt es zu bekämpfen. Wer so wie ich als Politikerin ständig in der vordersten Reihe stand, war jederzeit gefährdet. Überall. Von spontanen Ausbrüchen geistig verwirrter Menschen, die hofften, es mit einer Messerattacke zur besten Sendezeit ins Fernsehen zu schaffen bis zu Aktivisten, die ein politisches Attentat verübten. Oder einen Berufskiller engagierten, der bereit war, gegen eine große Summe Geld dergleichen zu tun. Wenn letzteres der Fall gewesen wäre, hatte er seinen Auftrag nicht erfüllt. Ich war am Leben. Abermals unternahm ich einen Versuch, die Augen zu öffnen. Sehr langsam gelang es mir. Ich konnte mich an das gleißende Licht gewöhnen und erkennen, wo ich mich befand. Meine erste Annahme bestätigte sich. Dies war ein Krankenzimmer. Es sah aus wie eine Intensivstation. Von meinem linken Arm führte ein Plastikschlauch zu einem Ständer. Eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte aus einem Beutel in einen Zylinder. Waren es Schmerzmittel? Oder nur eine harmlose Kochsalzlösung? Von meiner Position aus konnte ich keine Aufschrift erkennen. Das Kürzel NaCl hätte ich ohne medizinische Kenntnisse sofort entschlüsselt. Schließlich habe ich ein Studium der Physik absolviert.
Ein älterer Mann mit Hornbrille trat in den Raum. Eine Kompanie von Begleitern in weißen Kitteln folgte ihm. Dies war mit Sicherheit der Oberarzt, der zusammen mit seinen Kollegen meinen Gesundheitszustand begutachteten wollte. Mich erinnerten solche Auftritte immer an eine Entenfamilie auf Wanderschaft. Besser gesagt, von Schwänen. Komplett in weiß.
»Mensch Merkel?« Er lächelte. Seine Worte empfand ich als sehr befremdlich. Es war eine seltsame Art, jemanden, der gerade aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, zu begrüßen. Vielleicht war es eine psychologische Strategie, um einen vorsichtig auf das hinzuweisen, was man war. Falls der Patient Gehirnschäden davongetragen hätte. Es ergab Sinn, dem potentiell Desorientierten zu erklären, dass er ein Mensch war und danach seinen Namen auszusprechen. Das leuchtete mir ein. Es war schlau. »Sprechen kann sie wohl noch nicht«, flüsterte der Mann zu seinen Begleitern.
»Doch, ich kann sprechen!«, meldete ich mich zu Wort. »Nur hatte ich gerade nachgedacht, warum Sie mich nicht mit Frau Merkel ansprechen. Oder mit Doktor Merkel. Doch das erwarte ich nicht von Ihnen. So viel Wert lege ich nicht auf meinen Titel. Machen Sie sich nur keine Umstände, gerne können Sie mich einfach mit Frau ansprechen.« Die Weißkittel tuschelten untereinander. Der Anflug von Entsetzen in einigen Gesichtern wich Ratlosigkeit. Nun sprach der Arzt erneut.
»Es geht Ihnen gut, wie ich sehe. Darf ich Sie dennoch mit Mensch Merkel ansprechen? Empfinden Sie diese Bezeichnung als störend?«
»Ich bin Schlimmeres gewohnt«, entgegnete ich. Das war Ironie. Im nächsten Moment bereute ich die Antwort. Denn sie brachte Erinnerungen zurück, die ich hatte verdrängen wollen. Ständig beschimpft zu werden, das brachte mein Berufsalltag mit sich. Jederzeit hatte ich es tapfer hingenommen, das war mein Erfolgsrezept. Genau das schätzten die Meisten an meinem Charakter. Denn anders als die Sensibelchen schluckte ich Beleidigungen wie bittere Pillen und stand am Ende als moralischer Sieger da. Auf diese Weise war ich auf meiner Karriereleiter stetig aufwärts geschritten. Ganz anders als dieser Schröder, der großzügig austeilen, aber kaum etwas einstecken konnte. Dieser Mensch, der damals beim Kopf-an-Kopf-Rennen um das Kanzleramt in der Wahl knapp unterlegen war. Der sich dennoch als Sieger fühlte und in aller Öffentlichkeit so frech und beleidigend wurde, dass er sich binnen weniger Minuten in sein politisches Aus katapultierte. Sein größter diplomatischer Fehltritt. Und sehr ungeschickt, da er seinerseits vor Gericht gezogen war, als jemand behauptet hatte, er würde seine Haare färben. Eigentlich hätte ich diesem Schröder dankbar sein können, dass er derart leichtsinnig seinen Abgang von der politischen Bühne bereitet hatte … Nein! Dankbarkeit führte nun doch zu weit.
Es gab weit schlimmere Persönlichkeiten. Zur wahren Geduldsprobe wurde dieser vor Überheblichkeit strotzende Berlusconi, der mit seinen Kritikern wenig zimperlich umsprang. Ein Mann, der im Austeilen derart weit ging, dass er einen Eintrag im Guinness-Buch der Beleidigungen verdient hätte. Falls es ein solches Werk gegeben hätte. Die Retourkutsche kam von meinen Amtskollegen. Die Bezeichnung des italienischen Premiers als Clown war durchaus passend, politisch jedoch unprofessionell. Einzig und allein zählte, wie man in der Öffentlichkeit dastand. All dies war ein harter und steiniger Weg, doch musste man das Wesen der Diplomatie verstehen, sich selbst zu beherrschen lernen und ein enormes Maß an Selbstdisziplin aufbringen. Nur dann konnte es einem gelingen, in der Position des Regierungschefs viele Amtszeiten zu überstehen. Oft hatten sie mich fast so weit, dass ich alles hingeschmissen hätte. Für die Griechen hatte ich alles riskiert und meine ganze Überzeugungskraft in die Waagschale geworfen. Und womit hatten sie es mir gedankt? Mit diesen widerwärtigen Darstellungen in SS-Uniform und mit Schnurrbart. Wenn Dummheit laufen könnte, dann wäre … vielleicht ist es nicht überraschend, dass der Marathonlauf in Griechenland erfunden wurde. Ständig vor den eigenen Problemen davonzulaufen, das schien ihre Lebensauffassung zu sein.
Immer noch konnte ich mir aber nicht erklären, was diese Bezeichnung Mensch bedeuten sollte.
»Mir ist bewusst, dass manche Dinge für Sie ungewohnt sein könnten«, riss der Doktor mich aus meinen Gedanken. »Im Zuge der Gleichberechtigung wurde die Anrede Herr und Frau durch die neutrale Bezeichnung Mensch ersetzt. Zudem verzichtet man heutzutage auf Titel, um Menschen ohne einen höheren Bildungsabschluss nicht zu deklassieren. So ist es zumindest bei uns. Im Demokratischen Bayern.«
»Hat Herr Seehofer das durchgesetzt?«, fragte ich spontan. Beim Wort Herr blickten meine Besucher mich wieder entsetzt an. Ich korrigierte mich: »Der Mensch Seehofer.« Diesen ständig polternden Ministerpräsidenten hatte ich wohl unterschätzt. Es war ein geschickter Schachzug. Als Mann konnte man mit Feminismus bei Frauen durchaus erfolgreich nach Wählerstimmen fischen. Was die Abschaffung der Titel anging, könnte es die eine oder andere Stimme von politisch Linksgerichteten für seine Christlich-Soziale Union einbringen. Doch ein Punkt war seltsam. Was sollte das? Bayern war eine Demokratie, solange ich denken konnte. Trotz langjähriger Alleinherrschaft durch die Christsozialen. »Was meinten Sie mit Demokratisches Bayern?«
»Nun, Sie befinden sich in Bayern. Das Land ist eben demokratisch.« Er lächelte. Doch ich wurde immer noch nicht schlau daraus. Man musste ihm wohl jede Information Stück für Stück aus der Nase ziehen. Unbedingt wollte ich zudem erfahren, wie es um die Wahlen stand. Vielleicht war mittlerweile alles entschieden und die Abstimmung für meine Partei erfolgreich verlaufen? Denn einem Politiker, der einem Attentat zum Opfer fiel und seinen Wahlkampf abbrechen musste, brachte dies klare Sympathiepunkte ein. Auch wenn die Wahrheit nicht angenehm sein würde, ich musste einfach wissen, wie die Lage war. Selbst wenn die Bundestagswahl schlechter verlaufen wäre, als ich befürchtet hatte. Es war wichtig, zu erfahren, ob die große Koalition wieder gelingen würde. Ob wir vielleicht noch die Freidemokraten oder die Grünen hinzunehmen müssten, damit es für eine Regierungsmehrheit reichte.