Mein Blutsbruder: Der Orden der Schwarzen Löwen – Die Jagd auf eine Mörderbande. Tomos Forrest
haben. Dann machen sich die Treiber bemerkbar, und die erste Herde wird in unser todbringendes Feuer laufen!«
»Stellen Sie sich das mal nicht zu einfach vor, Herr Oberstleutnant!«, mischte sich wieder der Baron quer über den Tisch ein. »Ich habe in den letzten Jahren meine Erfahrungen mit den Gämsen sammeln können. Es gibt kaum ein anderes Wild, das so scheu ist, dabei schnell und vor allem mit einem unglaublich guten Sehvermögen ausgestattet. Das wird für uns nicht einfach werden!«
Ich nickte stumm, denn ich war auf meiner ersten Gamsjagd, die ich der Tatsache verdankte, dass nach einer Lesung in München die Zeitungen sich in den höchsten Tönen über meine Schießkünste ausließen. Als der dicke Brief mit dem königlichen Siegel bei mir eintraf, glaubte ich, nicht richtig zu lesen. Niemand anderes als König Ludwig II. von Bayern lud mich persönlich zu dieser Jagd nach Tirol ein. Konnte ich da lange widerstehen? Nein, ich hatte die Gelegenheit sofort ergriffen und dankbar die Einladung angenommen. Dass ich damit auch noch ein weiteres Ziel verfolgte, verschwieg ich meiner lieben Frau, die ein wenig mit mir schmollte, nicht mitkommen zu dürfen. Sie schwärmte von Empfängen und Bällen am Hofe des Königs, und ich hatte meine liebe Not, ihr klarzumachen, dass wir ein paar Tage mit wenig Bequemlichkeit in den Tiroler Bergen verbringen würden. Da war keine Rede von Tanz und anderem Vergnügen, als den Gämsen nachzustellen.
Plötzlich wurde es laut vor der Hütte, Stimmen riefen und ein Pferd wieherte freudig auf, als es die anderen Tiere im Pferch neben der Hütte entdeckte. Dann riss jemand stürmisch die Tür auf, und alle anwesenden Männer waren aufgesprungen, um eine tiefe Verbeugung zu machen – mich eingeschlossen.
»Bitte, meine Herren, behalten Sie doch Platz, wir sind unter uns Jägern ganz kommod! Hier ist mein väterlicher Freund, der Carl, und das ist der Sepp. Also bitte, ganz natürlich und wir sprechen uns ab jetzt nur noch mit den Vornamen an. Nein, Sepp, du hockst dich da auch mit hin!«
Die letzte Bemerkung galt einem kauzigen Alten mit schlohweißem Haar und einem prächtigen Schnauzer sowie einem etwas dünnen Wangenbart. Ich kannte ihn, wir waren uns schon einmal in seiner Heimat begegnet. Joseph Brendel, königlich-bayerischer Hauptmann a.D., enger Vertrauter König Ludwig II. und zudem – Geheimpolizist Seiner Majestät. Erstaunt, ihn hier oben in den Bergen am Vorabend einer großen Jagd zu sehen, wollte ich auf ihn zugehen, als ich einen warnenden Blick des Alten auffing. Es war offensichtlich, dass er so tun wollte, als würden wir uns nicht näher kennen. Brendel, von Freunden nur kurz ›Sepp‹ gerufen, hatte aufgrund seiner Sammelleidenschaft von heilkräftigen Wurzeln noch den Namen Wurzelsepp erhalten. Auch sein Äußeres wirkte bieder, natürlich trug er eine der üblichen Joppen und dazu eine Lederhose. Kurze Wollstrümpfe reichten nur bis zur Wade, und wie stets bei unseren früheren Begegnungen hing ihm an einem Band die unvermeidliche Zither von der Schulter, die er allerdings meisterhaft zu spielen verstand. Ich musste bei seinem Anblick einräumen, dass ich selten einen so gut getarnten Geheimpolizisten erlebt hatte wie diesen ehemaligen Dragoneroffizier. Joseph Brendel war ein Meister der Verstellung und arbeitete kräftig an seinem Auftritt als schlichtes, bayerisches Original, das noch nicht einmal lesen konnte. Ja, der Wurzelsepp passte gar nicht so recht in diese Gesellschaft, aber das schien keinen der Anwesenden zu stören.
Ich hatte mich zwar erhoben, tat aber so, als galt das nicht Sepp, sondern dem Ende unserer langen Tafel. Hier griff ich noch einmal zum Schinkenmesser, schnitt mir erneut ein Stückchen herunter und stopfte es mir in den Mund, während die neu eingetroffenen Gäste jetzt ebenfalls Bierhumpen auf den Tisch gestellt bekamen.
»Greift zu, Ihr Leut’! Es kommen auch gleich die Kasspatzln (kleine Teigklößchen mit Käse und gerösteten Zwiebeln) auf den Tisch!«, verkündete einer der Männer am Herd. Dieser Aufforderung wurde gern und sofort Folge geleistet.
König Ludwig hatte mir beim Niedersetzen nur kurz zugenickt und damit ebenfalls so getan, als würde ich zwar zur Jagdgesellschaft gehören, aber auch nicht in direktem Bezug zu ihm selbst stehen.
Nun, das musste mir natürlich recht sein. Wenn sich der König und sein bester Vertrauter so verhielten, gab es dafür einen triftigen Grund. Auf den war ich gespannt, wusste aber mich zu beherrschen und lauschte nun den harmlosen Gesprächen über vergangene Jagderfolge, bis es Schlafenszeit wurde. Der König und sein Begleiter, in dem ich Carl Maximilian von Orff vermutete, einen Offizier und frisch ernannten Militärdozenten an der Bayerischen Militärakademie, erhielten die beiden einzigen Einzelzimmer, während wir anderen den gemeinsamen Schlafsaal der Jäger aufsuchten. Für die Treiber gab es nur eine Übernachtungsmöglichkeit im Heu der angebauten Scheune, was aber für die Leute vollkommen in Ordnung war. Es waren alles kernige Burschen, deren Bewegungen eine Leichtigkeit zeigten, die man so oft bei Menschen findet, die ihren Alltag in der freien Natur verbringen. Dazu kamen ihre sonnengebräunten Gesichter, die offenen, ehrlichen Augen und ihre freundliche Art, wie sie uns bedienten und dabei immer ein Lächeln für die Gäste hatten. Ich kannte niemanden weiter und erfuhr erst bei der Einteilung für die Aufgaben am nächsten Tag, dass es nicht alles Treiber waren, sondern auch einige von ihnen als angestellte Jäger des hohen Jagdherrn dienten und ihm vollständig ergeben waren. Man merkte ihnen an, wie sie förmlich aufblühten, als ihr Herr Ludwig, wie sie den König nach seiner Weisung anzusprechen hatten, eintrat und nun der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft war.
Nach und nach kehrte Ruhe ein, es brannten nur ein paar Kerzen in den Leuchtern auf der langen Tafel als Orientierungshilfe, falls einer der Herren noch den Abort aufsuchen musste und sich nicht zurechtfand.
Ich musste gerade erst eingeschlafen sein, als mich jemand behutsam am Arm zupfte und ich verwundert die Augen aufschlug. Wir schliefen alle in sogenannten Etagenbetten, die rings an der Wand angeordnet waren. Mein Mitschläfer im oberen Bett war Sepp, und ich wunderte mich, wie geschickt er das bei der Verteilung der Schlafgelegenheiten angefangen hatte. Jedenfalls war er es, der jetzt vor mir stand und mir ein Zeichen mit der Hand gab, ihm nach draußen zu folgen.
Glücklicherweise hatte ich noch meine Jagdpikesche (Jacke) vom Haken genommen und übergezogen, denn die Nacht war empfindlich kalt. Ein unangenehmer Wind schlug mir entgegen, als ich neben Sepp trat, der noch ein paar Schritte zur Seite ging und sich dann zu mir umdrehte.
»Gut, dass du kommen konntest, Charly!«, raunte er mir zu. Wir standen seit unserem letzten, gemeinsamen Einsatz auf sehr vertrautem Fuß miteinander.
»Es sind Dinge im Entstehen, die mir große Sorgen machen. Ich kann derzeit niemand mehr trauen und da fiel mir passend der Bericht über deinen Auftritt in München in die Hände. Sofort hatte ich einen Plan, weihte Seine Majestät aber nicht ein. Vielmehr brachte ich ihn dazu, sich einmal die Schießkünste eines Mannes zeigen zu lassen, der unter dem Namen Old Shatterhand oder auch Kara Ben Nemsi zahlreiche Abenteuer erlebt hat und in seinen Erzählungen davon berichtet.«
»Das darfst du aber nicht so aufnehmen, als hätte ich alles persönlich erlebt, was ich niederschreibe, Sepp. Häufig muss ich ausschmücken und nehme dazu eine Erzählung eines meiner Gefährten hinzu, um Dinge zu schildern, die ich im Augenblick des Geschehens nicht wissen konnte. Und da kann auch …«
»Scht!«, fiel mir Sepp aber ins Wort. »Keine weiteren Erklärungen! Ich kann mich erinnern, dass wir uns bei unserer Begegnung ausführlich über die Tätigkeit eines gewissen Detektivs in Amerika unterhalten haben.«
»Ja, das ist richtig, aber jetzt …«
»Nicht so bescheiden, Charly! Jetzt brauche ich deine Hilfe, aber noch kann ich nicht ausführlich erzählen, was mich bedrückt. Nur eine Bitte habe ich vorerst: Halte die Augen so weit offen, wie es Old Shatterhand in Gegenwart feindlicher Comanchen täte!«
»Nanu, Sepp? Es gibt doch keine Indianer hier in Tirol?«, versuchte ich zu witzeln, kam damit aber nicht gut an.
»Die Lage ist ernst. Es könnte sein, dass man unseren Kini … töten will!«
»Was? Aber das ist doch gar nicht …«, fuhr es mir heraus, aber rasch stieß mich Sepp in die Seite und brachte mich zum Schweigen.
»Kein Wort weiter, ich habe dort hinten am Haus eine Bewegung gesehen. Ich vermute, jemand ist uns ins Freie gefolgt!«
Tatsächlich trat eine Gestalt aus der Dunkelheit