Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch
Gefängnisordnung betrachtet werde, so sei es verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, mir das vorher zu sagen, ich würde mir eine solche Behandlung noch lange nicht gefallen lassen usw. Das wirkte; der Mann zog alsbald sanftere Saiten auf, und seither standen wir auf friedlichem Fuße miteinander.
Die Kost im Gefängnis war quantitativ unbedingt ungenügend, reichte auf keinen Fall zur Sättigung eines erwachsenen Menschen. Wenn ich mich recht erinnere, bestand sie aus anderthalb Pfund Roggenbrot täglich, und zweimal am Tage wurde irgendeine Suppe oder ein Brei verabreicht. Fleisch bekamen die Gefangenen im ersten Monat nur zweimal wöchentlich und dabei in ganz mikroskopischen Portionen. Selbst die Wächter gaben zu, dass ein Gefangener, der nicht die Mittel besitzt, Extrakost zu bestreiten, sich nicht sattessen kann.
Die Zellen dagegen im ersten Stock, besonders soweit die Fenster nach der Straße lagen wie in der Zelle, die ich zu Anfang innehatte, waren geräumig, hell und sauber. An Möbeln war ein Tisch vorhanden, ein Schemel und ein Bett; dieses bestand aus einer Matratze, einem Strohkissen und einer dünnen wollenen Decke. In einem Winkel der Zelle stand der Ofen, der vom Korridor aus geheizt wurde und von unten bis oben mit einem starken Eisengitter umgeben war; dies um einen Fluchtversuch durch den Kamin zu verhindern. An einer der Wände hing die Hausordnung, in der den Inhaftierten die verschiedensten Disziplinarstrafen für die geringfügigsten Übertretungen der Vorschriften angedroht wurden. Alle diese Vorschriften hatten den Zweck, der Verwaltung Mühe zu sparen und den Unterhalt der Inhaftierten möglichst sparsam zu gestalten. Auf den Inhaftierten wurde nicht die geringste Rücksicht genommen. Das eigentümliche war eben, dass in diesem Untersuchungsgefängnis die Inhaftierten nicht behandelt wurden als Leute, deren Schuld erst noch festgestellt werden soll, sondern schlechthin als Verbrecher, die ohne weiteres einer Strafe unterworfen werden, mit denen die Gefängnisverwaltung nach eigenem Ermessen verfahren darf. Dies wurde mir besonders bei folgender Gelegenheit deutlich:
Eines Tags wurde ich aus der Zelle in den Korridor im Erdgeschoss geführt, wo bereits eine Anzahl Gefangener längs der Wand aufgestellt waren; sie schienen etwas zu erwarten; auch mir wurde ein Platz angewiesen. Ich wünschte nun zu erfahren, was denn eigentlich los sei. Nachdem ich meine Frage mehrmals vergeblich wiederholt hatte, erklärte mir schließlich der Oberaufseher, der katholische Geistliche sei da und wünsche alle Gefangenen zu sprechen, die einzeln, der Reihe nach zu ihm geführt würden. Ich erklärte darauf rundheraus, dass ich als Sozialist absolut nichts mit dem katholischen noch sonst einem Geistlichen zu tun habe, und daher bitte, mich unverzüglich in meine Zelle zu bringen. Das schien dem Manne furchtbar komisch, und er schlug ein ironisches Gelächter an.
„Was Sie wollen, ist uns ganz egal; er will Sie sehen, und deshalb werden Sie ihm vorgeführt.“
Die Schließer, die dabei standen, wollten sich vor Lachen ausschütten. Sie taten, als wäre etwas Unglaubliches geschehen, indem ich einen Willen äußerte, und amüsierten sich über den russischen Barbaren, der in einem deutschen Gefängnis, und wenn's auch nur ein Untersuchungsgefängnis war, sich einbildet, Überzeugungen und Meinungen äußern zu dürfen. Und wirklich blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Geistlichen vorführen zu lassen. Unsere Unterredung war allerdings sehr kurz; auf seine Frage nach meiner Religion, antwortete ich ihm, dass ich als Sozialdemokrat keiner Kirche angehöre, worauf er mich mitleidsvoll anblickte und sofort entließ.
Ungemein lästig war auch das sonderbare Spionagesystem in diesem Gefängnis, besonders in der ersten Zeit. Oft, wenn ich mich in ein Buch vertieft hatte oder schrieb, tauchte plötzlich ein Schließer vor mir auf; er hatte sich auf den Zehen herbeigeschlichen, lautlos die Tür geöffnet und spähte umher. Bei mir hatte er es darauf abgesehen, mich abzufassen, wenn ich aus dem Fenster zu schauen wagte, eine Zerstreuung, die in der Hausordnung streng verboten war.
Geradezu lächerlich war die übertriebene Sorgfalt, mit der nicht nur in diesem, sondern auch in anderen deutschen Gefängnissen, die ich zu sehen bekam, die Gefangenen und ihre Sachen visitiert wurden. So zum Beispiel hatte ein Dutzend Orangen, die mir meine Freunde zuschickten, das Misstrauen der Wächter erregt, und pflichtschuldigst hatte man jede einzelne Frucht in vier Teile zerschnitten, um zu untersuchen, ob nichts darin war. Das ging doch wirklich schon über Sinn und Verstand; kann man sich wohl vorstellen, dass man eine Attrappe herstellen kann, die einer Orange so ähnlich wäre, dass man sie nicht als solche erkennt, ohne sie aufschneiden zu müssen? Die russischen Gendarmen, die doch gewiss gerieben und mit allen Hunden gehetzt sind, bemühen sich meines Wissens niemals, das innerste Wesen einer Orange oder eines Apfels zu erforschen. Ihren Zweck erreichten die braven Leute trotz des ausgeklügelten Verfahrens doch nicht; auch in deutschen Gefängnissen ist der „Kassiber“, der Zettel mit Mitteilungen von und für Häftlinge, gang und gäbe, und keine Visitation war imstande, zu verhindern, dass ich streng verbotene Dinge durch alle deutschen Gefängnisse führte. All diese kleinlichen Schikanen und Formalitäten ärgern und verstimmen einen aber aufs äußerste. Besonders in der ersten Zeit waren sie mir wie gesagt unerträglich. Allmählich gewöhnte ich mich denn an die deutschen Gefängnissitten, auch das Personal gab seinen Übereifer mir gegenüber auf und wurde zutraulicher. Hierbei mochte der Umstand eine Rolle spielen, dass ich ein Fremder war, ein Russe; einen solchen hatten die Leute vielleicht noch nie im Leben gesehen, und deshalb interessierten sie sich für mich. Und dann: so pflichtgetreu immer der deutsche Beamte sein mag, er kann doch nicht umhin, dem materiellen Besitz desjenigen, mit dem er zu tun hat, einigen Einfluss auf sein Verhalten einzuräumen. Das Gefängnispersonal wusste, dass ich über einige Geldmittel verfügte – ich beköstigte mich zum Beispiel bei dem Oberaufseher, einem gewissen Roth –, sie sahen, dass ich alles hatte, was irgend im Gefängnis nötig und zulässig ist, und dass meine Freunde mich im Überfluss mit allen möglichen kleinen Bequemlichkeiten und Genüssen versorgten. Das schien den braven Leutchen zu imponieren. Dazu kam, dass ich ihnen bei jeder Gelegenheit versicherte, man würde mich bald freigeben; zum Teil war das ja wirklich meine Meinung, zum Teil kam es mir darauf an, ihre Wachsamkeit einzuschläfern; sie schienen denn auch der Ansicht zu sein, dass die Dinge sich so verhalten, wenigstens eine Zeitlang.
Das Personal bestand aus drei Mann, zwei Schließern und dem Oberaufseher, der zugleich Verwalter des Gefängnisses war. Alle drei suchten mich auf, um mit mir zu plaudern; sie fragten mich dann über die Zustände in Russland aus und erzählten ihrerseits über die deutschen Zustände, über Gefängnisse, Gerichtswesen und was sie sonst interessierte. – Sie machten alle den Eindruck, dass sie mit ihrer Stellung zufrieden seien. In der Tat war ihr Gehalt auch relativ hoch, bis zu 2.000 Mark und mehr jährlich, wenn ich nicht irre. – Besonders der Schließer, mit dem ich das erwähnte Rencontre hatte, besuchte mich später gern und oft. Er war, wie die beiden anderen auch, Soldat gewesen, hatte also die strenge deutsche militärische Disziplin in sich, die auch das Vorbild für das deutsche Gefängniswesen geworden ist; äußerlich schien er nicht nur hart, sondern direkt roh, in Wirklichkeit war er ein gutherziger Mensch. So zum Beispiel schlug er mir aus eigenen Stücken vor, er wolle die Speisen, von denen ich stets einen Teil übrig ließ, einem meiner Zellennachbarn bringen, weil der arme Mensch gar keine Mittel besäße und hungere; natürlich ging ich mit Freuden darauf ein. Ein kräftig gebauter, großer Mann, von ungefähr dreißig Jahren, hatte er die Stelle eines Schließers gefunden, als ihm nach der Dienstzeit sein eigentliches Metier, die Schreinerei, nicht mehr behagte. Wie die meisten deutschen Arbeiter hatte er nur eine Volksschule besucht, aber diese Schulbildung gibt unvergleichlich mehr als bei uns in Russland; im Vergleich mit Leuten in ähnlicher Stellung bei uns war dieser Mensch geradezu gebildet zu nennen. Wir plauderten oft über alles Mögliche, auch über Politik. Als Reichstagswähler stimmte er, wie er mir erzählte, für eine der damaligen Regierungsparteien, für die Nationalliberalen, wenn ich nicht irre. Meine Kenntnisse schienen ihm große Bewunderung einzuflößen, besonders die Kenntnis des Deutschen und Französischen, außer der russischen Muttersprache.
„Wie Sie das nur alles behalten können!“ staunte er, wenn er sah, dass ich von einem französischen zu einem russischen oder deutschen Buche überging.
Etwas sonderbar war es, wie man mit meinem Gelde umzugehen beliebte. Wie erwähnt, hatte man bei der Verhaftung das Geld aus meiner Brieftasche genommen. Einige Tage später präsentierte mir der Oberaufseher eine Rechnung über die Ausgaben, die man davon bestritten hatte. Da zeigte sich, dass die Polizisten, ohne mich nur zu fragen, recht freigebig waren: das Zimmer im Gasthofe,